22.10.2019

Berlin

von Sally Strauchmann gelesen am 22.20.2019

Ich drücke mein ganzes Gewicht gegen die schwere Feuerschutztür des Nachtclubs. Kaltnasse  Luft schlägt mir entgegen. Die Straßen sind leer. Der Regen hat alles Leben vom Asphalt gespült. Drinnen bebt der Bass gegen die Mauern. Ein Beat auf den man nicht tanzen kann. Ein Lied, das ich nicht kenne. 

Wenn man, wie ich aus einer Kleinstadt kommt, in der man nicht schnell zum Supermarkt fahren kann ohne jemanden zu treffen, den man mindestens als Bekannten einstufen würde, in der Führerscheine unabhängig machen und in der nur in Heimkellern richtige Partys stattfinden,

- Wenn man, wie ich aus einer Kleinstadt wie meiner kommt, in der jeder deinen Stammbaum ,mitsamt der angeheirateten Verwandtschaft, allen Skandalen und Gerüchten kennt, in der jeder seinen zugewiesenen Platz einnimmt, in der sich die Schönheit von Tradition stets gegen die Perspektivlosigkeit der neuen Generation behaupten muss,

- Wenn man wie ich aus einer Kleinstadt, wie meiner kommt, dann kennt man die Lieder nicht, die in Berlin gespielt werden. Dann tanzt man außer Takt.

Ich ziehe den Mantel enger um meine Taille und weiche mit einem Hechtsprung einer teichgroßen Pfütze aus. Ein Tropfen klatscht auf die Laufmasche meiner Strumpfhose. Tiefgefrorene Finger versuchen verzweifelt dem Mantel mehr Stoff zum Bedecken meiner Beine abzugewinnen.

Berlin. Das war die Stadt der großen Freiheit, der Unabhängigkeit, die Stadt, in der ich endlich diejenige sein könnte, die ich in unserer Kleinstadt  verstecken musste. Berlin. Diese Stadt war mein Kindheitstraum. Ich wollte irgendwann genauso desinteressiert am Fernsehturm vorbeischlendern, wollte trotz überhöhter Mieten mit dem wenigen Geld was überbleiben würde jedes Konzert und jede Kunstausstellung besuchen, wie es die Großstädter taten.  Ich wollte irgendwann genauso geschäftig in der S-Bahn ins Telefon philosophieren, wie die Anzugträger mit Aktentaschenklemmbrettarm. Berlin. Am meisten faszinierte mich die Sicherheit, mit der jeder seinen Weg zu wählen schien. Die Menschen gingen zügig voran, ohne sich umzudrehen, ohne den Blick von ihrem Ziel abzuwenden. Das gab dem orientierungslosen Zukunftsangsthasen in mir Hoffnung.

Ich bleibe stehen, um Berlin bei Nacht zu bestaunen. Der Fernsehturm leuchtet mit dem Mond um die Wette, als wäre es ein Wettbewerb um das Wahrzeichen der Stadt. Einzelne Wassertropfen haben sich in meinem Wollmantel verfangen und glitzern im orangenen Licht der Straßenlaterne. Wahrscheinlich werde ich nie gleichgültig durch die Straßen ziehen. Wahrscheinlich werde ich ein Stück weit immer das kleine Mädchen sein, das Leute in der U-Bahn zu lange anstarrt und sich wünscht irgendwann einmal genauso zu sein wie sie.  

Die Nacht verschluckt Berlins Hässlichkeit, setzt der der Stadt eine Maske auf. Phantom-Berlin leuchtet. Selbst graue Betonplatten haben etwas Atmosphärisches. Ich versuche über mir einen Stern auszumachen, doch hier unten ist es zu hell. Das künstliche Licht lässt alles jenseits der Stadt verblassen.

Ich steige in die U-Bahn, eine mit Brandenburger-Tor-Muster an den Fenstertüren. Mir gegenüber zwei Touristen, Kleinstädter,  die in antrainiertem Akzent ihr Stadt Resümee ziehen.

„Berlin.“, gluckst der geborene Dorfbürgermeister, „ Da glaubt man ja wirklich noch an Individualität. Jeder hier tut ja so besonders und einzigartig. Man macht man keine Trends mit, man findet seinen persönlichen Stil- in jeglicher Hinsicht. Doch so individuell, wie alle vorgeben zu sein, sind die Mate und Sterni atmenden, Zigaretten drehenden Neuveganer gar nicht.“, gluckst er und freut sich über sein Wortspiel.

„Überhaupt wird die Hauptstadt überbewertet.“, stimmt der Schrebergartennachbar mit ein. „Was hier alle Toleranz und Freiheit nennen, wäre besser mit Gleichgültigkeit betitelt. Der Berliner verschwendet seine Zeit schließlich nicht mit ausgewogenen Dialogen, sondern testet seine neusten Erkenntnisse am Zuhörer.“

„Und unter Zuhören versteht der Großstädter die Vorfreude gleich seine Meinung kundtun zu können.“, unterbricht ihn der Andere.

„Genau. Daher hat der/die/das  typische Berliner*in auch keine Freunde sondern nur Bekannte, mit denen er/sie/es sich auf einen gelegentlichen Sojalattemacchiato treffen könne.“ Erneutes ins Wort stolpern: „Und die Meinungen sind ja immer links oder rechts, also sowieso radikal. “Und überhaupt diese Stadt ist zu groß. Da freut man sich ja richtig auf Zuhause.“, prahlt der Dorfbürgermeister, der immer das letzte Wort zu haben scheint.

Gespannt verfolge ich die Konversation und vermisse meine Berliner, zu denen ich aufschauen kann, weil sie etwas ausstrahlen, was ich erreichen möchte. Obwohl wir alle aus Kleinstädten kommen und ich verstehe, was sie meinen wenn sie von den „Berlinern“ reden, fühle ich mich nicht ihnen zugehörig. Vielmehr zieht es mich aus der Situation, als wolle mir Berlin beweisen, dass die zwei im Unrecht liegen.

An der nächsten Haltestelle steige ich aus. Ohne den Fahrplan zu kontrollieren springe ich in die nächste Bahn. Ohne mich umgucken zu müssen scheine ich genau zu wissen wohin ich will. Ich richte meinen Blick geradeaus gen Haltestellenanzeige. Die Bahn rast an Siegessäule und Fernsehturm vorbei, ohne dass ihnen jemand Beachtung schenken würde. Ein kleines Mädchen fixiert mich unentwegt, doch ich habe es zu eilig um ihr ein aufmunterndes Lächeln zu schenken.

Mit einer eingeübten Bewegung bringt mich der Türsteher nach einem 800-Metersprint zum Stehen. Und auch wenn mich mein Perso noch als Nichtberlinerin ausweist, weiß ich in diesem Moment, in dem sich die schwere Feuerschutztür öffnet, ganz genau, wie ich zu diesem Lied tanzen soll.