12.11.2020

Wo Berlin wirklich hässlich ist

November 2020

Wenn man seinen eigenen Körper und den Schmerz, den er verursachen kann, mal so richtig spüren möchte, empfehle ich meine Führung durch die hässlichsten Orte. Die Depression kündigt sich meistens in meinen Handgelenken an, sie verursacht einen dumpfen Schmerz, ein Kribbeln, wie es das Herz bei Liebeskummer macht. Mein Handgelenk hat Liebeskummer, es vermisst mein Herz.

In der Glühbirne über dem Tisch spiegeln wir uns, spiegeln sich unsere Gäste. Im Duschkopf spiegelt sich mein gelangweiltes Gesicht. In der Kugel des Fernsehturms, wenn man vor dem seltsamen Skatergeschäft im Nieselregen steht, spiegelt sich der Schmerz der Stadt.
Dort klingen die Autos lauter als anderswo, es gibt ein Vakuum von schlechtem Handyempfang und lauten Autoreifen auf einer feuchten Straße. Man wünscht sich dort einfach nur zurück in sein warmes Bett, in ein Zimmer, von dem aus man die Welt nicht sehen muss, der Rucksack am Rücken ist verschwitzt. Dort kribbeln meine Handgelenke. Vielleicht ist es dort nicht mal so hässlich, was weiß ich, ich bin ja keine Architektin oder Stadtplanerin, ich weiß gerade mal so, ob ein paar Worte hässlich oder schön sind, wie soll ich es dann von ganzen Landschaften mitten in der Stadt wissen, das nämlich ist der Alexanderplatz, eine Landschaft aus meiner Traurigkeit und meiner Verlorenheit, man setzt mich vor dem Skatergeschäft ab und ich laufe in den Nebel der U-Bahnstation, ein Nebel aus „Burritos“, also Wraps mit Reis und Dosenmais, Kanalisation, Zimtschnecken und Pokébowls. Ich muss häufig blinzeln, auch wenn ich nicht weinen muss, um mich neu zu orientieren, jedes Mal, wenn meine Augen sich wieder öffnen. Jedes Mal, wenn sie aufgehen, nach Sekundenbruchteilen, wache ich an diesem unvertrauten, hässlichen Ort auf und muss kurz überlegen, wie ich nochmal einen Fuß vor den nächsten setze.

In den Pfützen auf dem Weg zwischen dem Wittenbergplatz und dem Motzstraßenkiez spiegelt sich die Traurigkeit auf eine ebenso hässliche Art. Es gibt ein paar Hotels, in denen ich mir Menschen auf Dienstreise vorstelle, die seit Jahren dorthin kommen, in ihren Zimmern rauchen und abends auf den Löffel beißend Suppe schlürfen, in der Stücke rauchige Wurst schwimmen und weiche Karotten. Sie sind von außen einsamer als von innen. Ich bin von innen einsamer als von außen. Das unterscheidet uns. Ich spiegle mich in einer Pfütze, die Hände tief in den Taschen, und bemitleide mich, inmitten der Hotels und des Asphalts, im Wechsel damit, die Menschen in den Hotels zu bemitleiden. Gleich wird es wieder schöner, man sieht schon den einlullenden Altbaukiez in der Ferne, man stellt sich die warmen, büchergefüllten Wohnzimmer privilegierter Schöneberger vor und eine Tasse Yogi-Tee, dann wird es schon besser. Was man mitnimmt, ist die Sprache, die sich grau färbt, die die Dichtung auslaufen lässt in Wortmalereien auf faserigem Aquarellpapier.

Zwischen Kreuzberg und Mitte liegt Brachland, zwischen Lindenstraße und Checkpoint Charlie, zwischen Halleschem Tor und Stadtmitte stehen ein paar Studentenwohnheime von amerikanischen Privatunis, wenn man auf Wohnungssuche ist, werden einem immer nur Wohnungen dort angeboten, weil alles andere schon unter der Hand weggeht, und man denkt, es wäre ja vielleicht doch okay, aber dort, an diesem Fleck, ist der graue Himmel grauer und die Taubenscheiße auch, als sie es woanders sind. Auch im Wedding scheint die Sonne, wenn es über dem Kentucky Fried Chicken regnet. Auch die Plattenbauten am Ende der Sonnenallee erblicken früher das Licht als niedrige Neubauten mit ihren Wohnungen für 3000 warm. Sauna im Bad, aber in die Sauna scheint die Sonne auch nicht. Allein für diesen Ort braucht man Gummistiefel, eine Regenhose, ein Cape, einen Schirm, damit alles an einem abprallt, bis man sich in die U-Bahn retten kann.

Zuletzt gibt es einen besonders hässlichen Ort, den man eigentlich kaum jemanden verraten kann, so hässlich ist er, und das mitten in der Stadt, die Leute werden hinfahren und ihn anschauen müssen. Der Innsbrucker Platz ist so hässlich, dass sogar ein Sonnenuntergang es schafft, ihn noch hässlicher zu machen, weil er dann beleuchtet wird. Die zweite Hälfte meiner Schulzeit bin ich jeden Morgen entlassen worden in seinen Geruch nach Pisse, Bäckerei und traurigen Menschen und traurigen Zigaretten. Oben sind ein paar Versicherungen, ein immerzu geschlossener Italiener, ein weiterer Backshop im S-Bahn-Aufgang, unter der S-Bahn-Brücke fahren viele Busse. Die Gebäude sind hoch, auf der Hauptstraße wohnt auch wieder jemand, laute Wohnungen, die zu den Hinterhöfen aber schön sind, dort kann man vergessen, dass man auf den Innsbrucker Platz schaut. In der U-Bahn-Station ist ein Lidl, in dem widerwillig Wocheneinkäufe gemacht werden und Schulkinder Chips klauen. Alles wird immer übertönt von der Autobahnauffahrt. Vielleicht auch gut so, man würde nicht wissen wollen, was für Geräusche der Innsbrucker Platz machen muss, wenn sie nicht übertönt werden. Ein schweres Ächzen sicher, der Platz stöhnt unter dem Gewicht der hässlichen Gebäude.
Die Therapeutin diagnostiziert mir eine mittelschwere Depression, als ich in ihrem schweren Ledersessel sitze und schwitze. Sie geht sicher auch auf die Kindheit zurück. Beim nächsten Mal muss ich erzählen, was mir der Innsbrucker Platz jeden Morgen einflüsterte: so riecht das echte Leben. So riecht es, wenn du die müden Augen entklebt hast und dafür gesorgt, dass mal endlich was aus dir wird. Genau so. Meine Mundwinkel hängen schon jetzt etwas herunter. Das ist wegen dem Innsbrucker Platz.