14.10.2020

Was man in Berlin alles darf

Oktober 2020

Wir sind die einzigen im Tapasladen in der Dieffenbachstraße. Es zieht ein bisschen durch die Tür und das Licht ist hell, ich trinke meinen Rotwein etwas zu schnell und sehne mich ausnahmsweise mal nicht nach zuhause. Das geht gerade wieder und gerade noch: drinnen ein Glas Rotwein trinken und Ziegenkäse essen. Es geht gerade wieder und gerade noch, nicht einsam zu werden. Je früher die Sonne untergeht, desto schneller wird man auch wieder einsam, dafür braucht es aber eigentlich keinen Virus.
Während wir Oliven essen, müssen wir viel lachen, obwohl es ein ernstes Gespräch ist. Daran erkennt man die guten Freundschaften, man kann sagen, mir geht es fürchterlich, und dann trotzdem lachen. Man muss nicht so tun, als wäre dann auch alles schlimm. Man darf eine Depression haben und trotzdem ein lustiger Mensch sein.
Es ist nicht klar, was man gerade darf und was nicht. Man darf lustig sein, zumindest meistens. Wenn man bei der Therapeutin sitzt und heult, sollte man nicht lustig sein. Das muss man manchmal auch lernen, indem man alleine schrill lacht und dann versucht, weiter zu erzählen. Man kann nicht für jeden gute Gesellschaft sein. Im Moment ist keiner in guter Gesellschaft, weil es der Gesellschaft nicht gut geht. Die Gesellschaft bin auch ich, ein kleines Häufchen Elend in der Tapasbar.
Man darf ins Kino gehen. Sogar laut lachen und Popcorn essen. Ich will jetzt so viel ins Kino gehen, dass ich, wenn die Kinos wieder schließen, gar keinen Bock mehr habe, je wieder einen Film zu gucken.
Wir müssen wohl jetzt erstmal damit leben, eine verschobene Moral zu haben. Für alles, was wir machen, wenn es nicht nur zuhause sitzen und Wocheneinkäufe machen ist, könnten wir Arschlöcher sein. Aber man darf ja gerade ins Kino gehen. Dann macht man es auch.
Man darf auch im Café sitzen und in seinen Computer tippen und sich Kaffee nachbestellen. Ich dachte immer, ich würde das vermissen, als es nicht ging, aber jetzt fühlt es sich wieder normal an und auch anstrengend. Wenn es wieder nicht geht, wenn alle Blätter von den Bäumen gefallen sind und wir uns aus den Betten quälen, eine ganze Stadt, die sich aus den Betten quält und verbittert Kaffee kocht, wird es mir wieder fehlen.
Heute hilft der Kaffee nicht. Die Sprache macht mich heute müde. Ich erliege ihr, wie ich anderen Dingen erliege, wie ich der Versuchung erliege, den Wecker auszumachen, wie ich den großen Meringue-Wolken in der Graefestraße erliege, einmal gelb, einmal lila. Ich erliege ihr, indem ich sie banal werden lasse. Ich erliege ihr, indem die Worte müde ihren Weg bahnen, bitte, danke, wir müssen mal das Bad putzen, aua. Ich erliege ihr und versuche es mit Lesen, die Wörter in den Gedichten reihen sich bedeutungslos aneinander.
Die Sprache der anderen ist auch müde. Sie ist harsch und genervt, mit jeder Fallzahl steigt auch sie etwas in ihrem Müdigkeitspegel. Man streckt die Ellenbogen aus, aber sie dürfen niemals die anderen Ellenbogen berühren. Wenn sich die Ellenbogen berühren, ist der andere Ellenbogen schuld.
Mein weicher Bauch, unter meinem schweren Herz, trägt mich manchmal mehr als diese Beine, wenn ich zum Fraenkelufer laufe. Ich erliege der Versuchung der warmen Küche am regnerischen Freitagabend. Oder der Gesellschaft, die nicht daran denkt, dass Schabbat ist. Die keinen süßen Wein braucht.
An Neujahr wird Schofar im Garten geblasen, damit nicht nur die wenigen, die in die Synagoge konnten, etwas vom Klang haben, Töne, die das neue Jahr einläuten, möge es besser als das Alte sein. Man macht Witze, das wäre nicht schwer. Durch den Zaun sieht man uns, das ist selten. Ich versuche, zu beten. Immer mehr Leute stehen am Zaun und schauen zu. Jemand hebt sein Kind auf die Schultern. Um mich herum verstecken sich Männerköpfe in Tallitot, aber ich habe keinen um meine Schultern gewickelt, mich kann man sehen. Jemand vor dem Zaun zückt ein Handy. Wie Affen, denke ich, wie Affen im Zoo. Wütend werfe ich Brotkrumen für Taschlich in den Landwehrkanal. Abends liege ich zitternd und weinend im Bett. Die Wut krümelt. Es bleibt ein Leuchten des Telefons, meine verschwitzte Wange, leise, tröstliche Stimmen, die sagen, wie furchtbar, Dana, was ist nur mit den Menschen los. Aber niemand versteht es wirklich. Niemand versteht den Kloß im Hals, der sich anfühlt, als hätte ich mein Gebetbuch verschluckt und die Ecken drohten, meine Kehle zu sprengen. Niemand versteht, dass jetzt keine Laute mehr herauskommen. Man kann lernen, die Dinge herunterzuschlucken. Sagt die Therapeutin. Man kann an einem dickeren Fell arbeiten.
An Yom Kippur kann man wieder aus dem Fell herauswachsen, denke ich. Am Ende des Tages, an dem man weder gegessen noch getrunken hat, bleiben vor allem die trockenen Fingerspitzen. Nach einem halben Liter ist der erste Durst gestillt. Es tut gut, sich daran zu erinnern, was wahrer Hunger bedeutet und dass man ihn vergisst, wenn man sich vertieft. Unter der Haube meines Gebetsschals und unter der Maske wird es schnell stickig. Der Fußweg am Fraenkelufer fühlt sich staubig an.
Immer wieder malt die müde, verlorene Sprache Unfälle vor mein inneres Auge. Jemand geht nicht ans Telefon, und ich sehe die nasse Straße und den LKW. Ein leises Kinderschreien vom Balkon und ich möchte nicht heruntersehen, falls etwas schlimmes passiert ist. Auch mein Kopf wird aggressiv von Corona, wenn dieser weltweite Unfall passieren konnte, warum passiert dann meinem kleinen Körper keiner?