12.11.2020

Nach fünf Jahren

November 2020

Das goldene Licht, das im Herbst 2015 in die Straße fiel, in der wir die Wohnung mieteten, die fünf Jahre mein Zuhause war – jedes Jahr wieder fällt an einem Oktobertag dieses Licht durch die Straße und erinnert mich daran, dass es nicht selbstverständlich war, dieses erste Zuhause. Wie seltsam, zu gehen. Vor fünf Jahren war ich noch nie in der Straße zwischen Sonnenallee und Kanal gewesen. Unten im Café saßen Leute und tranken Kaffee, der Laden hieß Every Day is Sunday, mittlerweile ist er geschlossen.
Auf der Straße lag Laub, aber dieser Tag fühlte sich noch nach Sommer an.
Am Anfang war die Wohnung so spärlich eingerichtet, dass ich nachts Angst hatte. Das Licht der Laterne schien so auf die beinah orangefarbenen Dielen, dass es nie ganz dunkel war, aber nicht hell genug, sich nicht trotzdem zu fürchten. Es sind mehr Möbel und mehr Mitbewohnerinnen gekommen und gegangen, als ich dachte. Es ist weniger geliebt worden, als ich dachte. Mit neunzehn dachte ich, ich würde unendlich viel dort lieben, dann habe ich aber mehr geweint als geliebt. Ein paar liebende Momente sind mir im Gedächtnis geblieben, die meisten von ihnen gerade eben erst.
Es hat sich einiges geändert und einiges nicht: im Hinterhof geht manchmal ein Sodastream, das Geräusch macht mich glücklich. Auch die Wörter, die mir hier nun beigebracht werden: tschotschke, nüschele. Die Musik, die man aus dem Wohnzimmer schon im Treppenhaus hören kann. Die Musik, die im Treppenhaus noch aus meinen Kopfhörern kommt, und sich mit der Wohnzimmermusik vermischt.
Verflossen denke ich dabei an ein anderes du, wenn ich Reggae höre. Dieses du hat nur in meiner Erinnerung einen Fußtritt hinterlassen. Es gibt keine Beweise. Weder in der Wohnung noch anderswo, und trotzdem ist die Wohnung der letzte Beweis. Manchmal trete ich auf den Dielen die Erinnerungen platt, wenn ich mir selbst wehtun will.
Nachts überlege ich, dir eine Postkarte zu schreiben, auf der steht: ich wünschte, du hättest mein echtes Lachen kennengelernt. Ich wünschte, du wüsstest, wie gut ich ein Abendessen kochen kann und wie schön meine Sprache klingen kann. Ich wünschte, du wüsstest, wie ich aussehe, wenn ich wütend bin. Es weiß nun jemand anderes. Ich wünsche mir, dass du das weißt.
Die Absenderadresse meiner Postkarte wird eine andere sein, und dann gilt es nicht mehr. Dann sind die Spuren ganz verwischt. Keine Nachbarin wird über meinem Kopf mehr dreimal täglich staubsaugen. Es wird Sonne auf meinen Schreibtisch scheinen und es wird ein anderes Licht geben, wenn wir einziehen, an das wir uns erinnern. Es wird eine gute Straße für ein zweites Zuhause sein. Wie deprimierend.