30.11.2021

ich hasse kreuzberg

November 2021

Illustration: Dorothea Müller

Illustration: Dorothea Müller

manchmal sitze ich an der ecke meiner straße und kippe erdnusssoße mit kopfsalatstreifen in mich hinein. dann fange ich manchmal an zu hassen. traurigerweise nehme ich meinen hass oft genau in verbindung mit sagenhaft guten essen besonders ausdrücklich wahr. dort wo gerüchteweise besondere gaumenfreuden erwartet werden, tümmeln sich menschen, die sich mit der falschen art der pizzazubereitung in eine sinnkrise steigern können. pho essen ist heutzutage in kreuzberg eine rituelle zelebrierung der eigenen postnatalen identität geworden, die absolut nichts mit der vietnamesichen diaspora zu tun hat. sondern mit weißen mittzwanziger*innen, deren (selbst-)ausbeuterisches streben nach der individuellen selbstentfaltung mit einem minimum an zwei mal pro woche self-care routine (yas me time!) kompensiert werden muss. schönes ambiente (atmo), das wollen wir doch alle. manchmal hasse ich kreuzberg. der spaziergang am kanal entpuppt sich als fashion show, in der feingliedrige girls and boys schlagfertig ihre hüfthosen presenten, zu feinem deep house (soft porno mukke) ihre geheimnisse des tages austauschen und sehr laut lachen. dazu trinken sie getränke, die meine kotze orange färben würden. ich bin grundsätzlich eine verfechterin des liebzueinanderseins. ich schreie nicht auf demos „nazis raus!“ weil ich das dumm finde und fand sophie passmanns neues buch doof, weil sie alles doof findet. ich will eigentlich nicht haten. und trotzdem schreibe ich: ich hasse kreuzberg. kreuzberg ist ein vergangenes mantra, immer wieder heraufbeschwört von einem vierzigjährigen cis-mann, der aussieht wie thomas hayo. ich fühle mich wie die letzte verbliebende auf einer schlechten party. ich klammere mich an mein vier euro bier und will nicht gehen, erwarte ein gefühl, das ich noch nie erlebt habe, ein absurd-groteskes abenteuer, das vor mir liegt, in der verheißungsvollen stimmung irgendeines wochenendes, irgendeines schlechten filmes SO RICHTIG VIEL FUN, bitte! aber die party ist vorbei. die letzte eigentumswohnung gebaut, der letzte schwan gefüttert. jetzt nach kreuzberg ziehen ist ein bisschen wie jetzt anzufangen oasis zu hören. ich fühle mich als wäre da geblieben und trotzdem verlassen worden. ich fühle mich wie die tochter eines typen in der midlife crises, der sich mal eben eine neue attitude gekauft hat. ich weiß, dass ich meckere auf hohem niveau. ich wurde noch nicht verdrängt, mir geht es gut, obwohl mich meine nachbar*innen im durchschnitt seit sechs jahren hassen, weil ich teil der parasitären-wohngemeinschaftssekte bin, die unseren sozialbau überfluten und unterdurchschnittlich wenig miete bezahlen. ich kann es ihnen nicht verübeln. ich kann anderen anderes verübeln. und das tue ich. als die meuterei in der reichenbergerstr. geräumt wurde, war ich sehr wütend. als der köpi-wagenplatz geräumt wurde stand ich kurz vor dem hamburger gitter und habe ein bisschen geweint. ich weine in den letzten jahren sehr oft. ich weine jetzt zum beispiel regelmäßig wenn ich nachrichten gucke, das ist mir früher nicht passiert. das verbuche ich dann als prozess des erwachsenwerdens. bewusst die verdrängung (linker) freiräume mitzuerleben fühlt sich an wie wundes zahnfleisch (nach einer weisheitszahn-op): ich fühle mich verletzlich, ohnmächtig und wütend auf den schmerz.
eine freundin von mir meinte mal zu mir sie fände diese romantisierung des eigenen wohnviertels, dieses „rumgekieze“ einfach nur affig. ich habe verständnisvoll genickt. sehe ich auch so. im prinzip. trotzdem schaffe ich es nicht hier weg, aus blindem stolz auf eine identität aus straßennamen und schnellimbissen. ich habe irgendwo mal gelesen / gehört / gesehen, wie eine junge w.o.c meinte, sie denke für diaspora kids ersetze der kiez oft dieses vermaledeite heimatsgefühl, sie wären vielleicht anfälliger für das zugehörigkeitsgedusel an eine hood, weil es etwas kompensieren würde, was andere ihnen nicht zugestehen würden. die hood kann ein safer mikro kosmos sein, die meist einschätzbarer ist als das restliche land und damit risikoärmer unangenehme überraschungen zu erleben. ich habe als jugendliche auf die frage woher ich käme nie deutschland geantwortet, sondern immer berlin, oder genauer: neukölln oder später: kreuzberg.mit deutschland wollte ich nicht identifiziert werden, denn deutschland identifizierte sich auch nicht mit mir. aber bin ich ehrlich zu mir ist meine hood nicht mehr safe. in meiner hood sehen alle irgendwie aus wie ich und ich fange an, mich selber zu hassen. in meiner hood sind diejenigen am sichtbarsten, die es am wenigsten brauchen. sie sitzen vor lauten bars, reden über ihre bumble bio und ich laufe an ihnen vorbei und denke: niemand hier muss irgendwann mal arbeiten. niemand hier verdient das lebensgefühlt nach dem sich alle hier sehnen. vielleicht ist kreuzberg ein einziges insta-live video. vielleicht ist dieses 'früher war alles besser'-gehabe meinerseits auch nur teil meines postadoleszenten verbitterungsprozesses. feststeht: ich esse falafel mit erdnusssoße, es ist sehr lecker und ich verbittere. ich weiß, dass noch viele leute kämpfen um diesen kiez. und das ist wichtig und richtig. ich kämpfe auch ein bisschen, aber vor allem nur dadurch, dass ich noch bleibe. dass ich noch nicht gegangen bin. ich weiß auch noch nicht wann ich gehe. aber dieser text hier, denke ich, ist wohl der anfang vom ende: ich hasse kreuzberg.