11.03.2020

Erdbeertod

März 2020

 

Um mich zu beruhigen, stelle ich mir einen Maitag vor. Das viel zu kalte Wasser im Becken vom Prinzenbad und wie meine nassen Haare auf die Zeitung tropfen, von der ich nur das Magazin lese, dann trockne, dann dusche, dann merke, dass mein Handtuch auf den Boden gefallen ist, mich dann mit dem dreckigen Handtuch abtrockne. Sommersprossen zähle, gerade ist es noch eine pro beschissenen Wintermonat. Mir fällt ein, dass Februar ist, und ich mir nur einbilde, ich würde Sommersprossen zählen. Beschissener Wintermonat, fünfter beschissener Wintermonat, ich will meine Sommersprossen zurück. Jetzt reicht es, finde ich, jetzt reicht es mit dem Schwersein, mit dem schweren Essen und den schweren Tränen, mit den schweren Füßen und den schweren Lidern. Es soll alles beruhigend und gemütlich sein, das Kartoffelgratin und die Lasagne, die gemütliche Traurigkeit zwischen deinen Laken, die schweren Stiefel an meinen Füßen und das Müde-Sein, dass es draußen so früh dunkel wird, dass der Regen an die Scheibe schlägt und die Sonne einen wütend macht, weil sie bedeutet, weil ihr Zeichen ist, dass man rausgehen sollte und auf dem Flohmarkt schwere Stiefel zum Waffelstand schleppen.

Ich stelle mir vor, ich hätte sie, die Sommersprossen, im Gesicht und auf den Händen. Jede meiner Poren auf der Nase könnte ja auch eine Sommersprosse sein. Am Ende des Sommers ergeben sie immer einen Fleck und dann war es ein guter Sommer. Letzten Sommer war ich in der Türkei und sogar auf meinen Füßen waren kleine, helle Sommersprossen, und wir haben Chips mit Käseüberzug gegessen und ich hatte Sorge um meine neue Beziehung und deshalb häufig ein bisschen ungerecht schlechte Laune, ich hatte aber auch Zeit ein Buch von Jonathan Franzen zu lesen und lustig zu sein und nachmittags zu schlafen und sehr laut im Auto mitzusingen. Das waren Augusttage. Ein Maitag würde weitergehen mit einem kalten Kaffee und vielleicht sogar einem Gedicht, zumindest wenn ich ihn mir vorstelle. In meiner Vorstellung blüht es an einem Maitag und alles fühlt sich an wie in einem Astrid-Lindgren-Buch über unerzogene und glückliche Leute nur in Kreuzberg. Im Februar bin ich sogar auf die Sonne wütend, weil sie mich rausschicken will, wie eine Großmutter, die will, dass man mal an die frische Luft kommt. Ich will keine roten Backen und keinen Tee. Am Maitag hat man Lust sich die Seele aus dem Leib zu vögeln so gegen 14 Uhr. Dann isst man vielleicht ein Brötchen zu Mittag oder trinkt in der Uni einen Kaffee mit einer Freundin und sagt, guck mal, die Strumpfhose, nur 20 DEN, lässt sich in einem Seminar um 16 Uhr anlächeln und lächelt zurück und um 18 Uhr ist es noch Tag. Auf dem Fahrrad zurück friert man ein wenig und zieht sich vorm Einkaufen einen Pulli an. Spargel und Weißwein. Niemand braucht Kohlenhydrate, wenn es Mai ist. Es ist Mai und es ist barfuß. Dann schreibt man einen Text darüber, dass man auch im Mai sehr unglücklich sein kann, aber man hat bloß einfach vergessen, was es heißt, wirklich unglücklich zu sein, wie zum Beispiel im Februar, oder man hat es nicht vergessen und starrt unglücklich an die Wand oder an die Decke und überlegt, wer gerade alles eine gute Zeit hat, und man starrt an die Decke als wäre es Februar. Vielleicht isst man den Spargel aber auch nicht alleine vor dem Laptop, während man Tagesschau schaut, sondern mit einer Freundin, die gern mit einem Tagesschau schaut, und dann macht man immer wieder Pause und redet darüber, was passiert und wie schlimm das ist, und findet am Ende des Abends: gut, dass wir uns haben, und geht auseinander, trinkt noch allein den Rest des Weins und starrt an die Decke und denkt, wie schön wäre es, jetzt jemand zu haben, um sich auch nachts die Seele aus dem Leib zu vögeln und schläft ein, ohne Zähne zu putzen und denkt, scheiß Winter, ich hoffe, du kommst nicht wieder, morgen gehe ich auf den Maybachufermarkt und kaufe all die schönen prallen Tomaten und Erdbeeren, damit du nicht wiederkommst. Im Februar hab ich vergessen, wie eine Erdbeere schmeckt. Es gibt manchmal gefroren gekaufte und dann aufgetaute im Bircher Müsli, das mir ans Bett gebracht wird, wenn ich morgens schon weinen muss und sage, dass ich gerne verschwinden würde. Diese Erdbeeren schmecken nicht nach Erdbeeren, sondern wie eklige Kaugummis, und manchmal möchte man sie heimlich wieder ausspucken.

In diesem Februar finden wir im Rewe an der Kasse einen Einkaufszettel, auf dem steht: Lachgummis (f. 21 P.) (Maoam) und 2 Hyazinthen. Wochenlang versuche ich, mir auszumalen, wer das war, wer sich nicht merken konnte, dass Lachgummis für 21 P. und 2 Hyazinthen benötigt werden. War es ein frisch Alleinerziehender, der seiner Tochter ein Geburtstagsfest ausrichten wird und noch genau das beim letzten Einkauf vergessen hat? War es jemand, der einen Abschied im Büro ausrichtet und genau 10 Euro zur Verfügung hat und sich errechnet hat, dass es so für Snacks und Blumen reicht? War es jemand, der einfach Lachgummis und Hyazinthen mag? Ich möchte über jeden von ihnen eine Geschichte schreiben, aber mir fällt nichts ein, alles wurde schon einmal geschrieben, also trage ich nur den Zettel mit mir rum und denke, wenn wir unsere Wohnung beziehen, dann hänge ich das an den Kühlschrank, so dass ich nie vergesse, Lachgummis zu kaufen und Hyazinthen, wenn sie Saison haben.