11.08.2020

die zeit ist fies und leise

August 2020

wollen wir halbjahresbilanz ziehen, oder lieber nicht? für ja, springe zu eins. lieber nicht: fünfzehn.

eins: haben wir alle weniger gelesen, weniger worte zu bedeutungen aneinandergereiht, bis jetzt, bis juli, als letztes jahr bis zum juli? wenn ja, bitte zu frage drei springen.

zwei: wenn du denkst, wir haben alle mehr gelesen, findest du das gut? wenn ja, bitte zu frage drei springen. wenn nein, bitte zu frage vier springen.

drei: was macht bedeutung mit dir? was macht bedeutung mit einer stadt? welche sätze machen etwas mit dir, und welche sätze machen etwas mit der stadt?

vier: vielleicht macht lesen auch nicht besser, und die stadt bleibt die stadt. ob man liest, merkt man vor allem, wenn man bahn fährt. vielleicht macht es besser, zu rechnen, etwas mit den händen zu machen, mit jemandem zu schlafen. soll man mit leuten schlafen, die nicht lesen? wenn ja, bitte zu frage fünf springen. wenn nein, bitte zu frage sechs springen.

fünf: man braucht für sex ja keine bücher, sie werden meistens unbequem, wenn man sie einbezieht. und wenn man aus ihnen zitiert, endet das häufig seltsam und ebenso unbequem, wie wenn man sie sich unter den rücken legt.

sechs: es ist ja auch schlimm, wenn jemand nicht liest. es ist ja auch wirklich schlimm, wenn jemand nicht weiß, wie es ist, sich völlig zu verlieren in den geschichten anderer, wie es ist, mut und trost und einsamkeit und gemeinsamkeit zwischen seiten zu finden. jemand, der mit feinen fingerspitzen über rauhe seiten streicht. das ist ja schon sexy.

sieben: what does it matter. was zählt denn diese erste hälfte des jahres in der alles schief ging. was ist der schlimmste tag der woche? für montag bitte zu frage acht springen, für dienstag zu frage neun, mittwoch frage zehn, donnerstag frage elf, freitag frage zwölf, den samstag lassen wir aus, es ist mein quiz und der samstag ist der beste tag der woche, für sonntag frage dreizehn.

acht: wie langweilig, der montag, der schlimmste tag. was wenn aber nicht, was wenn am montag sogar die dealer in der hasenheide die hundetüten austauschen aus denen heraus sie dealen und es gibt sicher auch menschen die ein beschissenes wochenende hatten und sich auf ihr erstes zoomseminar am frühen morgen freuen, wenn alles noch still ist und alle den montag hassen außer ihnen selbst. dann ist der tag nicht so schlimm und manchmal geht man montags noch kurz schwimmen bevor man hungrig ins bett fällt und es war alles nicht so schlimm, nur im zoomseminar saß jemand mit einem vermeintlich lustigen shirt, auf dem stand i hate mondays und diese person sah auch aus als hätte sie vermutlich einen wellensittich.

neun: immer dienstags hatte ich französisch in der vierten und fünften stunde und habe gemeine kurzgeschichten über meine lehrerin geschrieben obwohl sie es natürlich sehr gut meinte. habe die geschichten einmal durch den klassenraum gereicht. ich habe dienstage gehasst, weil sie mich erinnerten, dass ich am liebsten böse dinge über eine liebe person geschrieben habe, anstatt ein buch zu diskutieren. man sollte auf keinen fall mit mir schlafen, wenn es um die liebe zur literatur geht.

zehn: warum magst du mittwoch nicht? der mittwoch hat keine persönlichkeit. er ist ein sehr langweiliges buch, frank schätzing hat es vielleicht geschrieben, oder juli zeh. der mittwoch ist ein roman von juli zeh, nachdem sie noch fünf weitere romane geschrieben hat. man weiß, am ende geschieht etwas grausames, hässliches, und sagt das online-yoga ab.

elf: donnerstage sind die schlimmsten. ich stimme dir zu. vor einem jahr im wintersemester hatte ich donnerstags um acht einen kurs, den ich brauchte, um mein studium abzuschließen. ich bin immer im schlafanzug in die uni gefahren und habe mein leben gehasst, habe den bus zurückgenommen, stand im kalten regen am checkpoint charlie und habe auf den m29 gewartet und geheult. dann habe ich die neue ZEIT aus dem briefkasten geholt und mir irgendein fettiges frühstück gemacht, masturbiert und geschlafen, bis ich um 18 uhr wieder in der uni sein musste, um einen kurs über werbetexten zu besuchen, falls man als linguistikstudentin sich auch noch WOANDERS orientieren soll. die elf war die richtige wahl, der donnerstag ist der furchtbarste tag. am ende des semesters habe ich den typen, dem ich persönlichkeitslos hinterhergeschrieben habe, zufällig im grimmzentrum getroffen und wir haben getan als würden wir uns nicht kennen. dann haben wir uns noch auf dem bahnsteig getroffen. er hat gesagt, dass ich immer sehr klug war und sehr großzügig und wir haben uns umarmt. er hatte mir einmal gedichte auf dem schreibtisch hinterlassen, bevor er ging, und nach der umarmung habe ich mich betrunken und viel geraucht und einige monate nach der umarmung habe ich dich kennengelernt und musste nicht mehr hinterherschreiben. aber ich denke, ohne die umarmung hätte ich dich nicht kennengelernt, es gibt zufall und es gibt die sicherheit, dass es so ist. donnerstage sind die schlimmsten. die umarmung war an einem donnerstag. man erkennt als mensch muster da, wo es sie nicht gibt. das ist der fehler.

zwölf: am freitag beginnt schabbat. meist geht die sonne schöner unter. am freitag sollte die luft nach erleichterung schmecken, und wenn sie das nicht tut, dann ist der freitag nicht gerecht zu einem und man darf ihn hassen. manchmal wird der freitag ungerecht wie es kein anderer tag sein kann, wenn niemand mit einem den freitag feiern will. am freitag beginnt schabbat und es ist sehr schön jüdisch in berlin zu sein trotz dem ganzen scheißantisemitismus auf parties die man später am freitag feiert, denn im zweifel läutet man ihn in einem gotteshaus ein und vergisst dass man keine pläne hat. dann ist der freitag rosa. ich möchte mir nicht vorstellen, wie es sein muss, den schabbat nicht zu haben. manchmal ist es einfach, eine jüdin zu sein. am freitag ist es das. das ist die gerechtigkeit des feiertags, der wöchentlich kommt. es gibt eine gerechtigkeit. manchmal auch freitags. manchmal ist der freitag trotzdem grausam. du darfst den freitag ja hassen.

dreizehn: beim sonntag sind sich alle einig. er verbreitet das unschöne gefühl, am ende einer gedankenlosigkeit zu stehen, die man nicht wahrnehmen konnte, weil man eben, genau, gedankenlos war. mehr muss man nicht sagen. an sonntagen muss man manchmal bücher lesen, obwohl man niemanden verführen möchte.

vierzehn: all das gilt nur, wenn man einen gesellschaftlichen vorgesehenen alltag lebt. das ist die prämisse. gilt die prämisse für dich? man braucht hierfür keine antwort. die frage reicht. wie ein stapel aus dünnen pfannkuchen muss man wochentage ertragen und ertagen. die zeit ist fies und leise.

fünfzehn: dieses halbjahr war leise auf der straße und laut im kopf und ja, lieber keine bilanz. stimmt schon.