03.07.2020

über das bad und über die arbeit

Juli 2020

1.

es wird lippenstift nachgezeichnet. mit einem rosenholzbraunton über lippen, die ein bisschen alt aussehen.

elvira sagt: denk daran, was aus dem portemonnaie zu nehmen für mittag.
luisa sagt: ich habe einen apfel und keinen bock dabei.
elvira sagt: das ist nicht genug essen und nicht genug bock.
luisa sagt: mama, der lippenstift ist zehn jahre alt.
elvira sagt: verdien du doch das geld, um mir einen neuen zu kaufen.
luisa sagt: you can take my lunch money.
elvira sagt: sagst du das auch den schrecklichen mädchen in der stufe.
luisa sagt: ich hasse dich.
elvira sagt: auf der usieben ist schienersatzverkehr. bitte beeil dich.
luisa sagt: daran zweifle ich.
ludwig sagt: der vernünftige mensch hat gewisse zweifel nicht.

2.

ya’ara sitzt auf dem badwannenrand. leyla liegt drin.

leyla sagt: ich weiß nicht was das war. weißt du, wir denken immer, jetzt ist das problem gelöst, mit dem sexismus und den männern, weil wir eigene bankkonten und meinungen haben. weil wir my body, my choice rumbrüllen. my body, my choice. gilt auch nur für abtreibungen. aber wir dürfen ja die meinung haben. weißt du, ich spür die hand noch immer, obwohl das heute morgen war. was hätte ich den zu dem typen sagen sollen. my body, my choice, bitte fassen sie mir nicht mehr an den po, ich habe mich dagegenentschieden, dass jemand meinen körper anfasst. richtig eingebrannt hat sich seine scheißhand, ya’ara.
ya’ara sagt: soll ich hinterherzwicken.
leyla sagt: nein, danke. ich entscheide mich dagegen.
ya’ara sagt: scheiß patriarchat.
leyla sagt: ja. ich bin müde.

ludwig sagt: wir merzen also die sätze aus, die uns nicht weiterbringen.
roland sagt: was in mir nachklingt, ist etwas, das ich ganz körperlich erlebe: etwas geringfügiges und durchdringendes erweckt jählings diesen körper, der sich mittlerweile bereits in der wohldurchdachten vertrautheit mit einer allgemeinen situation beruhigt hatte: die sprache, das denken wirken nach art eines peitschenhiebes.

leyla sagt: was?
ya’ara sagt: nichts.

3.

alma will wie oscar im stehen pinkeln.

alma: nur mal ausprobieren, mama. ob es sicher nicht geht.
mama: es geht sicher nicht, das weiß ich.

ludwig sagt: was ist der beweis dafür, dass ich etwas weiß? doch gewiss nicht, dass ich sage, ich wisse es.
astrid sagt: einmal hat die lehrerin gefragt, wozu die nase da ist, und da hat albin in ihrer klasse geantwortet: „um rotz drin zu haben“.

 

Wittgenstein, Ludwig: Über Gewissheit. Werkausgabe Band 8. Suhrkamp Verlag, Frankfurt (Main), 16. Auflage 2019.

Zitat 1: S. 162.
Zitat 2: S. 126.

Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt (Main), 18. Auflage 2016. (S. 172)

Lindgren, Astrid: Madita.