16.12.2019
Wir denken in neonfarbenen Linien auf dem Asphalt
Dezember 2019
Du rufst mittags an, während ich am U-Bahnhof sitze und einen Plastiksalat auf den Knien balanciere. Eine Hand am Telefon, die andere an der Tüte mit Dressing. Ich hebe beim zweiten Klingeln ab und sage lauter, dabei hast du noch gar nicht gesprochen. Aber die nächste U-Bahn kündigt sich schon mit Grollen und Vibrieren an, und überhaupt sprichst du immer viel zu leise. Deine Stimme überschlägt sich, als du die Begrüßung weglässt und direkt zum Punkt kommst: Berlin ist eine Festung. Ich habe keine Ahnung, was das heißen soll, aber du bist in Panik und spuckst deine Wörter förmlich aus. Ich halte den Hörer etwas weiter vom Ohr entfernt, balanciere den Salat und meine Tasche beim Einsteigen. Drinnen lege ich alles auf den Sitz neben mich, versuche, die strafenden Blicke zu ignorieren. Ich zeige auf den wiederverwendbaren Kaffeebecher, der aus meiner Tasche ragt. Fummele die Kopfhörer auseinander und nehme den Faden wieder auf. Du wiederholst ständig Wörter, aber es fällt dir gar nicht auf, als du deinen Morgen beschreibst. Du sagst, die Leute bewegen sich anders als sonst. Zuerst hast du es gar nicht gemerkt, aber draußen auf der Straße haben alle ihre Gangart angepasst; sie laufen zielstrebiger, fast marschieren sie, und du fragst dich, woher sie den Rhythmus haben. Ich unterbreche und sage: Die Zeitumstellung hat dich aus dem Takt gebracht. Während ich es sage, weiß ich schon nicht mehr, ob es stimmt. Exakt, sagst du, du bist als einziges nicht im Takt. Heute beim Bäcker haben sich die Leute in alphabetischer Reihenfolge angestellt. Als du das Haus auf dem Weg zur Uni verlassen hast, war es dunkel, um neun Uhr morgens, und niemand hat sich gewundert. Waren die Straßenlaternen an, frage ich, weil mir sonst nichts einfällt. Nein, alle haben bloß ihre Handys rausgezogen und die Taschenlampen angemacht. Beim Anrempeln haben sie sich nicht in die Augen geschaut. Lass uns später reden, sage ich, wir fahren hier gleich in einen Tunnel ein.