03.04.2019
[Was sich zu lange anschaut, wird Maschine]
April 2019
Er zieht das Tempo an und ich muss mich beeilen, um mitzukommen. Dabei ist er kleiner als ich. Aber irgendwas sitzt ihm im Nacken und er hastet so schnell die Straße entlang, dass ich Angst habe, er legt sich gleich auf die Nase. Jetzt sag schon, was los ist. Hast du deine Fahrkarte vergessen? Der S-Bahnhof liegt seit fünf Minuten hinter uns. Ohne langsamer zu werden, kramt er beim Gehen in seiner Jackentasche und zieht einen zerknitterten Fahrschein hervor. Er drückt ihn mir in die Hand. Du wolltest nach Potsdam? Er scheint kurz zu überlegen, ob er mir antworten soll. Vor wem bist du dann weg, frage ich. Und warum laufen wir immer noch? Wir müssen aus der Stadt, sagt er. Die verlassen nicht gerne Berlin. Die Polizei? Das ergibt doch keinen Sinn. Er murmelt etwas vor sich hin, das ich nicht verstehe, und wiederholt es nicht.
Eigentlich waren wir auf dem Weg zu einer Lesung. Ich versuche, mich zu erinnern, von was und bin mir unsicher, ob ich es bloß vergessen oder gar nicht nachgesehen habe. Aber ich gucke immer alles nach. Für heute habe ich drei verschiedene Verbindungen rausgesucht, falls eine ausfällt. Die dritte haben wir gerade verpasst. Er fängt an, sich beim Gehen regelmäßig umzuschauen. Ich tue es ihm nach, ohne zu wissen, wonach wir Ausschau halten. Langsam bin ich auch nervös. Etwas bewegt sich in meinem Augenwinkel, er zuckt, er hat es auch gesehen. Noch einmal, diesmal von der anderen Seite. Wir laufen beide schneller, rennen jetzt fast, und müssen immer wieder ausweichen, wenn uns jemand entgegenkommt. Wenn wir aus Berlin rauswollen, müssen wir zur Bahn, keuche ich. Es fällt mir nicht ein, langsamer zu werden. Nicht die S-Bahn, sagt er. Da sind sie am liebsten unterwegs; liegt am Geruch. Und dass die Fenster etwas loser in den Rahmen stecken. Und die Regionalbahn? Das geht. Wir rennen.
Am Bahnhof sprinten wir gerade noch in die Bahn, bevor die Tür zuklappt. Er wickelt sich halb um die Haltestange, während er wieder zu Atem kommt und ich lasse mich auf einen Sitz fallen. Ich will ihn fragen, wovor wir eigentlich auf der Flucht sind; aber er wirft mir einen warnenden Blick zu und sagt, nicht hier. Guck nach Leuten, die verdächtig aussehen. Verdächtig wie was, frage ich. Ausgeblichen an den Rändern, sagt er. Elektrisch. Nicht ganz da. Das ist doch keine Beschreibung, sage ich, aber ich kann nicht lachen. Mein Nacken fühlt sich an, als ob darauf ein Gewicht lastet und mein Körper ist angespannt. Auf irgendetwas reagiere ich. Die Leute um uns herum haben seine Beschreibung mitgehört und ihn wohl direkt als Spinner abgetan. Jedenfalls lassen sie uns in Ruhe. Ich schaue mich um, alles sieht normal aus. Und irgendwie auch nicht. Ich sehe keine Funken, aber meine Haut zieht sich zusammen wie vor einem Schlag. Er hechtet zu mir herüber, greift nach meinem Arm. Dann dehnt sich alles aus.
Als Nächstes stehen wir an einem anderen Bahnsteig, mitten im Grünen. Es ist kein Schild zu sehen, aber eben waren wir noch in Mitte. Wir sind nicht ausgestiegen, da bin ich mir sicher. Was zur Hölle war das. Er braucht einen Moment für die Antwort. Etwas länger, als mir lieb ist. Sie waren im Zug, sagt er schließlich. Ich hab uns rausgeholt. Hier draußen sind wir eini-germaßen sicher. Vor wem, frage ich. Was hast du mit dem Zug gemacht? Er schaut mich an, sein Gesichtsausdruck verwandelt sich in Kränkung. Gar nichts, sagt er, ich hab nur uns daraus entfernt, das ist alles. Entfernt. Es ist schwierig zu erklären, am einfachsten kann ich es dir wahrscheinlich zeigen. Aber nicht hier. Wir lassen den Bahnhof hinter uns.