04.07.2019

Was sich zu lange anschaut, wird Maschine (III)

Juli 2019

 

Ich habe die ganze Woche über geübt, bis einer der Sicherheitsleute auf mich aufmerksam geworden ist. Er hat sich das Band der Überwachungskamera angeschaut, sagt er, und dabei sei ich aufgefallen. Ich überlege mich umzudrehen, um meinen Kaffeebecher in den Mülleimer am Gleis zu werfen, lasse es dann aber. Von meiner Position aus kann ich nicht genau erkennen, in welchen Behälter er gehört; und um uns herum stehen schon genug Leute, die so tun, als ob sie mit ihren Handys beschäftigt wären. Die brauchen nicht auch noch einen Grund, in das Gespräch einzugreifen. Was heißt denn aufgefallen, frage ich. Ich warte auf meinen Zug. Der Sicherheitsmann holt tief Luft. Endlich passiert mal was in seinem Job. Seit drei Stunden, sagt er. Und Sie tauchen auf allen möglichen Gleisen auf.

Ich warte kurz. Aber nicht auf den Videos von der Rolltreppe, fährt er fort. Wollen Sie das nicht mal kurz erklären? Ich bin gerne früh da, sage ich. Wie am Flughafen. Und ich latsche nicht über die Gleise, falls Sie das meinen. Das hätten Sie doch gesehen. Der Sicherheitsmann wirkt etwas unschlüssig, ob er mir glauben soll. Andererseits hat er mir eigentlich nichts vorzuwerfen, also macht er sich mit einigen gemurmelten Drohungen auf den Weg.

In diesem Moment biegt er um die Ecke. Er winkt kurz, so als ob wir uns normal treffen. Als er mich erreicht, sagt er hallo, aber in einem leiseren Tonfall als sonst. Wir ziehen uns in eine Ecke zurück, unter die Rolltreppe. Heute, sagt er, käme eigentlich die nächste Stufe. Ab hier wird es etwas gefährlicher, deshalb musst du lernen, sie zu erkennen. Die aus der Bahn, frage ich. Genau. Deshalb machen wir jetzt einen Feldversuch. Er gibt mir etwas, das in etwa aussieht wie ein Handy. Zumindest von der Form. Aber es ist kein Bildschirm erkennbar und das Material ist ziemlich schwer und glänzend. Wie ein polierter Stein. Er wartet gar nicht auf meine Frage. Damit bemerken sie dich nicht, sagt er.

Im nächsten Moment stehen wir auf einem anderen Gleis, an einem anderen Bahnhof, und steigen in die S-Bahn. Ich weiß nicht genau, wonach ich Ausschau halten soll und lasse meinen Blick etwas unsicher durch den Waggon schweifen. Alle darin sehen wie normale Fahrgäste aus. Er steht direkt neben mir und ist sehr nervös, das hilft nicht. Ich schaue mich noch einmal genauer um, lasse meinen Blick kurz auf jeder einzelnen Person stehen. Dann drehe ich mich zu ihm um. Hier ist keiner, sage ich. Er nickt. An der nächsten Haltestelle steigen wir aus und sprinten in den Waggon dahinter. Hier ist die Atmosphäre eine ganz andere. Immer noch schaut uns niemand an, aber es ist kein Zufall mehr, sondern eine bewusste Entscheidung. Hinter mir schwitzt er vor Angst. Wie wichtig kann dieser Ausbildungsteil sein, wenn er anscheinend so gefährlich ist?

Aber ich habe keine Zeit, um mir darüber Gedanken zu machen, irgendwas in der Nähe kann ich spüren. Ich werfe einen Blick nach hinten und er nickt. Ein Fahrgast nach dem anderen…eine Gruppe älterer Damen, die sich lautstark überlegen, wo sie am besten aussteigen sollten. Ein Mittzwanziger, wahrscheinlich Student, lehnt an der Tür. Eine Frau und ein Mann, beide mit Kinderwagen nebeneinander; sie wirken, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Der Mann ist am Handy, spielt irgendwas, das mit Autos zu tun hat. Die Frau schaut starr aus dem Fenster, aber etwas stimmt nicht mit ihrem Blick.

Sie reagiert auf Dinge, die hinter ihr passieren und die sie mit Sicherheit nicht sehen kann. Und wenn sie sich bewegt, flackert sie leicht. Ich betrachte sie aus dem Augenwinkel; niemand sonst im Waggon schenkt ihr Aufmerksamkeit. Oder uns. In diesem Moment wirft sie einen letzten heimlichen Blick in die Runde. Ihr Gesichtsausdruck verändert sich, wird konzentriert. Ich spüre, wie in meiner Nähe ein geistiger Anker ausgeworfen wird. Sie tut das, war wir tun. Dann ist sie weg.