Stadion

Walter steht am Osttor des Olympiastadions. Die Dauerkarte bleibt heute in der Brusttasche verstaut. Sie steckt in der zerkratzten Schutzhülle. Eine Schutzhülle, die schon viele Karten vor ihr beherbergt hat. Jetzt liegen sie feinsäuberlich sortiert in einer Spandauer Maisonettewohnung - chronologisch geordnet nach Saison. Walter ist mit dem Auto gekommen – heute wird nicht getrunken. Eigentlich wird schon lange nichtmehr getrunken. Wenn er sich ein Bier zum Abendessen öffnet, dann nur zum Genuss. Die halbgetrunkene Kindlflasche verschließt er wieder mit dem Kronkorken und stellt sie zum Kartoffelsalat in den Kühlschrank. Genuss hält sich am besten über Nacht und gut verschlossen, eingeklemmt zwischen H-Milch und Buletten.

Vom Awareness-Team im Stadion hat Walter aus dem Hertha-E-Mail-Verteiler erfahren. Er hat sich über die Halbglatze gefahren und gewundert – über das englische Wort und seine fehlenden Haare. Die wollen was gegen Diskriminierung tun, was für Menschen. Das hat Walter verstanden, das fand er gut. Auch in seiner Arbeit tut er Gutes. Also hat er eine E-Mail verfasst und am nächsten Samstag seinen Schal umgelegt. Er hat ganz automatisch die Dauerkarte in die Brusttasche geschoben und ist ins Auto gestiegen. Die Charlottenburger Chaussee rauschte am roten Polo vorbei – wie alle zwei Wochen.

Eine junge Frau mit blondem Zopf und hochgebürsteten Augenbrauen erklärt das Schutz-Konzept nochmal.

- Es geht auch darum, dass ihr euch wohl fühlt. Wir wissen euer Engagement zu schätzen.

Strahlt sie, während sie pinke Westen an die Freiwilligen verteilt. Sie sollen Ansprechpartner sein für Opfer von Übergriffen. Für den Notfall sitzt eine schmallippige Psychologin in einer verwaisten Loge. Walter schreibt gewissenhaft mit. Als „Nur nach Hause“ durch das Stadion hallt, steht Walter in leuchtendem Pink hinter den Schleusen. Er wartet auf seinen Einsatz. Der Typ vom Security-Check – ein junger Kerl mit Schiebermütze und sympathischem Grinsen – kann die pinke Awareness-Weste nicht von den orangenen Arbeits-Westen unterscheiden.

- Na was geht heute bei euch? Ich musste grade einen rausschmeißen, der in der Ostkurve randaliert hat.

Er zwinkert vertraulich und kumpelhaft. Ein geheimer Gruß unter Security-Mitarbeiter_innen. Nach der ersten Halbzeit trinkt Walter Apfelschorle aus einem Pappbecher. Er redet mit den anderen Ehrenamtlichen -Studenten, eine alte Frau. Nach der zweiten Halbzeit sieht Walter den betrübten Fans zu, wie sie sich durch die schmalen Ausgänge drängen. Jemand fragt ihn nach dem Weg. Ein paar Typen mit Trainingsjacken, Reißverschluss bis zum Kinn und kurze Haare machen sich über das Pink der Weste lustig. Sie tragen Airmax und ihre breiten Köpfe wackeln beim Lachen.

Dann steigt Walter in sein Auto. Hertha hat verloren, zuhause wartet ein kühles, halbes Bier. Die Folie muss nur noch von der Schüssel mit dem Kartoffelsalat gezogen und die Buletten mit Butter angebraten werden. Vielleicht braucht ja in zwei Wochen jemand Walters Hilfe.