17.09.2024

Spiegelstadt

September 2024

„Diese Stadt ist gefüllt mit Spiegeln“, sagtest Du und hieltest mir meinen vor.

Ich sah milchige Reflektionen um meinen Kopf tanzen.

„Diese Stadt ist gefüllt mit Plastik“, sagte ich und schaute Dich an durch ein biegsames gelb.

Du warst verzogen und in Sepia.

Ich setzte mich auf die Couch der Straße, die hier stand im Automeer und mehr Regen gesehen hat als so mancher Stein. Du hinter mir, an den verwaschen braun-grünen Stoff gelehnt, Hände auf meinen Schultern; wie die Vorbereitung eines Boxkampfes.

Ich legte meinen Kopf in den Nacken und hielt die Orangensaftflasche zwischen uns, sah Dein nun noch breiteres Gesicht und suchenden Blick. Der Klappspiegel steckte wieder in der Brusttasche Deines verwaschen braun-grünen Hemdes.

„Heute ist alles alt.“ Ich ließ die Flasche um meinen Horizont kreisen und die Fußgänger um mich herum bekamen Bedeutung.

„Was siehst Du heute?“

Ich suchte in unserer bekannten Szene nach etwas Ungewöhnlichem. Gestern hatte ich Dir von den Regentropfen erzählt – die auf der neugebauten Dachrinne des Gründerzeitenbaus. Wie man sie von hier nicht sehen, aber manchmal riechen konnte. Und wenn man die Augen schloss auch schmecken. Wie sie auf den nächsten Regensturz warteten, der ihren Sturz zur Folge hätte. Drei Stockwerke die Sintflut und dann ein Stück Erde zwischen dem Asphalt.

Letzte Woche hatte ich über die alte Dame geredet, die öfters in unser Blickfeld spazierte.
Wie sie ihren mindestens genauso alten Hund damals Krümel nannte, weil er immer versuchte ihre Kekse zu essen. Wie sie beide seit über einem Jahrzehnt jeden Tag zusammen verbrachten und gemeinsam sterben würden, denn nach so langer Zeit passten sich die Herzschläge aneinander an. Wie sie sich damit gerade noch in der Mitte trafen. Wie sein schnelles Herz ihr langsames anspornte und schützte und sie ihn beruhigte und besänftigte. Wie sich in die rechte Hand der Dame eine Kuhle in Form der Hundeleine gezeichnet hatte, und die linke immer nach Leckerlis roch.

Morgen würde ich Dir den tragenden Stahl beschreiben, der das halbfertige Wohnhaus schon mehrere Jahrzehnte stützte. Wie er eigentlich dazu gedacht war nur kurzzeitig den Betonbau zu umrahmen, um Zugang zu ermöglichen; wie er schon längst wieder woanders hätte stehen sollen, denn seine Spezialität war das schnelle Zusammen- und Auseinanderstecken. Wie sich die nun rostroten Pfeiler mit der Last der Zeit und ungeschriebener Geschichten beugten. Wie sie nur in den Momenten leichter wurden, sich aufrichteten, in denen gelbes Taschenlampenlicht und flüsternde Stimmen mit ihrem Leben die Geister verjagten.

Aber heute war ich mutig. Ich schaute weiter durch die Orangensaftflasche zwischen uns und sagte: „Ich sehe mein Bild von Dir.“

Der weite Blick verließ Dein Gesicht und fokussierte mich. Du gingst um die Couch herum und nahmst neben mir Platz, ganz langsam und vorsichtig. Schautest mich erwartungsvoll an, fast gierig.

Die Stille zwischen uns wuchs, Du wartend auf meine Geschichte und ich wartend auf meinen Mut mir das erste Wort auf die Zunge zu legen.

Ich senkte meinen Filter und gab ihn Dir zum Trinken.

„Ich sehe Dich in meinem Orbit. Wie Du seit Jahren kreist und Deine Bahn nicht veränderst. Wie Du Schwerkraft mit Sicherheit verwechselst und Dich dann beim Versuch zu fliegen fragst, was Dich am Boden hält.“

Ich streckte meine Hand aus und griff wieder nach der Orangensaftflasche.

„Ich sehe Dich in 10 Jahren, genau hier mit mir sitzen und immer noch neue Geschichten entdecken.

In 20 Jahren Deinen Zwanzigern nachtrauern und wünschen, Du hättest selbst mehr Geschichten gelebt, statt sie nur zu hören.

In 30 Jahren diese Stadt hassen, weil sie Dir Dein ungenutztes Potential vorführt und Du Dich zu alt fühlst, um ihr etwas zu entgegnen.“

Ich nahm den Klappspiegel aus Deiner Brusttasche, öffnete ihn, platzierte ihn so, dass wir uns beide spiegelten.

„Wie wir hier gemeinsam sitzen und alt werden, die Couch eingefroren. Wie die Regentropfen in die Erde gehen und in Pflanzen gesogen werden. Wie sie verdunsten und sich wieder dem Himmel anschließen. Wie die Dame mit ihrem Hund sterben und uns das erst Wochen später auffallen wird, weil das bei Abwesenheiten meistens so ist. Wie das Gerüst, von dem ich Dir morgen erzählen werde, irgendwann abgebaut sein wird. Wie wir hier sitzen und zuschauen und sich alles bewegt nur wir nicht.“

Eine Taube landete vor uns und versuchte Krümel aufzupicken, die nicht existierten. Ich schaute ihr zu und sah Dich das gleiche tun. Sie hatte einen wilden Blick und zerzauste Federn.

Dann sahst Du mich an, nahmst mir sachte meinen Filter aus der Hand und brachtest ihn zum wortwitzelnden Mülleimer an der Ecke. Als Du zurückkamst, warst Du näher. Ich hätte Deine Wimpern zählen können. Du nahmst den Spiegel wieder in die Hand und schobst ihn vor uns, sodass sich Deine Augen für mich darin spiegelten.

„Möchtest Du wissen, was ich sehe?“

Ich nickte vorsichtig.

„Ich sehe mich als Teil Deiner Spiegelstadt.“

Du schautest weiter durch den Klappspiegel direkt in meine Augen. Unsere Schultern berührten sich und hätten wir unsere Köpfe zueinander gedreht, hätte das Licht viel weniger Weg gehabt zwischen uns; aber der Reflektor blieb Teil unserer Verbindung.

„Das sind Deine Sorgen und nicht meine.“ Ich hörte ein sanftes Lächeln aus Deiner Stimme heraus. „Meine Filter ändern sich ständig und Deine fast täglich. Wir treffen hier jeden Tag als andere Menschen aufeinander, gespiegelt und gefiltert und herumgeschleudert durch unsere Straßen und für Dich ist alles alt; für mich sind wir jeden Tag neu.“

„Gestern hast Du mir erzählt wie Regentropfen schmecken und ihnen Gedanken gegeben, und letzte Woche hast Du die Liebe und den Tod gesehen; jeden Tag filterst Du etwas anderes und jeden Tag teilst Du ein Stück davon mit mir. Deshalb sitze ich hier und bin alt für Dich, aber meine Entscheidung dafür ist jeden Tag neu.“

Wir schwiegen.

Ich drehte mich zu Dir und Deinen Wimpern.

„Wie siehst Du mich? Bin ich Dein Spiegel?“

„Manchmal, denke ich. Aber wenn wir hier sitzen und Du mir Deine Welt erzählst, dann sehe ich für einen Moment durch Deine Filter, dann stehen wir auf der selben Seite und reflektieren gemeinsam.“

Wieder war Stille und wir beobachteten die vorbeifahrenden Autos. Die herumpickende Taube war nicht mehr zu sehen.

„Was machst Du jetzt mit Deinen Geschichten, Deinem Orbit und dem ungenutzten Potential?“, fragtest Du, Blick weiterhin in die Ferne gerichtet.

Die Frage blieb zwischen uns stehen. Gesellte sich mit auf die Couch.

„Möchtest Du von dem alten Gerüst hören, das da hinten steht?“

Aufnahme eines Spiegels in einer U-Bahn-Station.
Foto: Eliana Wojtal