02.02.2024

SICH EIN BILDNIS ZU MACHEN

Februar 2024

Und die Schlange war listiger denn alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu dem Weibe:
1. Moses 3:1

Es war das Wochenende nach der Hochzeit. Paul war für ein Interview mit der „Nylon“ angefragt worden, das begleitend zu einer von ihm geschossenen Fotostrecke erscheinen sollte. „Und warum haben Sie angefangen zu fotografieren?“, fragte die junge Journalistin. Sie hatten sich für das Interview in einem Café im Prenzlauer Berg getroffen, in dem der Kaffee für den Preis eindeutig zu schlecht war und die bestimmt zehn Jahre jüngere Frau ihm gegenüber biss sich ein wenig zu eindeutig auf die Lippen. Paul war überrascht, dass er so gar keine Lust verspürte auf ihre Avancen einzugehen. Die richtige Antwort auf ihre Frage, fiel ihm erst ein, als er abends schlaflos die Decke betrachtete.

Aufnahme 1: 

Ein aufgeschlagenes Tierlexikon auf den graugemusterten Sitzen einer Thüringer Regionalbahn. Die aufgeschlagene Seite zeigte das bunt strahlende Bild eines Tukans.

Aufgeregt hatte Judith auf den Schnabel gezeigt: „Lange hat man also geglaubt, dass der Tukanschnabel so groß ist, weil er ihn braucht, um Früchte zu öffnen oder bei der Partnersuche. Aber eigentlich gleicht er so seine Körpertemperatur aus, indem er Hitze in den Schnabel leitet.“ An Pauls erstem Tag auf der neuen Schule war der Stuhl neben Judith der einzig freie gewesen. Das wunderte ihn, denn sie war wahnsinnig freundlich und wahnsinnig schlau. Biologie war ihr Lieblingsfach. Jeden Tag fuhren sie gemeinsam mit der Bahn zur Schule. Jeden Nachmittag nannte Paul ihr ein Tier und am nächsten Morgen erzählte Judith ihm alles Wissenswerte über dieses Tier - egal ob Orang-Utan oder Ameisenbär.

Aufnahme 2:

Judiths Strahlen, wenn sie über Tiere redete.

Aufnahme 3:

Judiths gefaltete Hände im Zwielicht unter einem Schultisch. Leicht verwackelt. Sie zitterten.

Es war das zweite Oberstufensemster, in dem sie im Biologieunterricht Evolution durchnahmen. Erst merkte er nicht, dass Judith aufhörte sich zu melden. Dann schrieben sie die Klausur und als er bei Aufgabe vier auf ihr Blatt herüberspähte, war da nichts. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Kurz blickte er sie an, ihre Lippen bewegten sich. Dann räusperte sich Frau Vynhal, die Biolehrerin, und er wandte sich wieder seinem Blatt zu. Erst viel später begriff er, dass Judith gebetet hatte.

Aufnahme 4:

Eine lange Tafel, Teller gefüllt mit Pelimeni, eine Ketchupflasche und zwei Becher Schmand. Am Ende des Tisches: Judiths Augen in einem Männergesicht. Kinder und Jugendliche, sich mehr oder weniger ähnelnd.

Er musste siebeneinhalb Pausen auf Judith einreden. Nach der Klausur stand ihre Versetzung auf dem Spiel. „Aber warum?“ und „Aber wir sind doch Freunde, oder?“ immer wieder. Schließlich hatte sie gesagt er solle nach der Schule einfach mit zu ihr nach Hause kommen. Da saß Paul dann zwischen Judiths neun Geschwistern. Alle Mädchen hatten lange geflochtene oder hoch gesteckte Haare wie Judith und trugen lange Röcke. Vor dem Essen beteten alle ein persönliches Gebet - auch die Jüngsten.

Aufnahme 5:

Sonnenstrahlen auf Judiths geschlossenen Augenlidern. Gesicht gen Himmel.

„Wir führen ein Leben mit Gott.“ – „Was bedeutet das?“ – „Dass wir in der Gemeinde nicht weltlich leben. Kein Fernsehen, keine Körperlichkeit vor der Ehe, keine Evolution.“ – „Und deswegen hast du im Test nichts hingeschrieben? Wegen Adam und Eva?“ (Was Paul nicht fragte: Und deswegen trägst Du immer lange Röcke? Deswegen meiden dich alle? Deswegen sagst Du abschreiben sei Sünde? Deswegen hast Du Harry Potter nicht gelesen und kennst ACDC nicht?“) Judith nickte verträumt, vor ihnen im Garten pickten einige Hühner im Gras. „Manchmal werden wir getestet vom Teufel. Da kommt es drauf an auf Gott zu vertrauen und standhaft zu sein. ´Der Herr ist mein Hirte`, heißt es in den Psalmen.“

„Aber Du riskierst deine Versetzung. Und woher weißt du überhaupt, ob es Gott gibt?“- „Er ist wie die Sonne. Ich werde die Sonne nie von Nahem sehen. Aber ich sehe ihr Licht und ich spüre ihre Wärme.“

Sie saßen da – Sonne auf Judiths ruhendem Gesicht und die rasenden Fragen in Pauls Kopf. Dann sprang sie auf: „Ich muss jetzt gehen. Um 19 Uhr beginnt die Jugendstunde. Willst Du mitkommen?“ Paul schüttelte den Kopf. Judith fiel nicht durch. Paul überredete sie ein Referat zu halten: „Christliche Rezeption von Evolutionstheorien“.

Aufnahme 6:

Judiths Lippen. Ungeschminkt. Rosa. Nur diese Lippen und das kleine Muttermal am Kinn.

Aufnahme 7:

Betende Männer im Anzug, Reihe um Reihe. Auf der anderen Seite des Saales Reihen mit betend knienden Frauen, einige ältere trugen ein Kopftuch.

Nach dem Gottesdienst fuhr Paul Judith nach Hause. „Und wie fandest Du es?“- „Ich weiß nicht. Befremdlich. Ich kannte die Choreografie nicht.“ Sie lachte. „Und sonst?“ „Hmm, es geht ein wenig viel um Schuld und...“ Dass er das alles veraltet und unheimlich fand, sagte er nicht. Er konnte nicht. Er wollte Judith verstehen. Er wollte ihren Gott verstehen. Den Rest des Sonntags wartet er vergeblich auf eine Nachricht von ihr. Erst Mittwoch trafen sie sich wieder im Wald für einen Spaziergang.

 

Foto: privat
eine junge Person, mit langem Zopf liegt mit dem nackten Rücken zum Betrachter auf einem Bett.

Aufnahme 8:

Judith wie sie weinte. Die Verzweiflung in ihren Augen. Sie stand in einem Sonnenblumenfeld.

Sie konnte nicht aufhören zu weinen. Sie konnte ihn nicht ansehen. „Aber wenn es sich gut anfühlt, warum kannst Du dann nicht?“ – „Weil es Sünde ist, Oh Gott, vergib mir. Warum stellst Du mich so auf die Probe?“

Aufnahme 9:

Ein Test. Zwei Streifen. Wieder ihre verzweifelten Augen.

Die letzte Aufnahme, die er von Judith hätte machen können.

Aufnahme 10:

Nichts. Schwarz.

Judith kam nicht zum Abiball. Es gab keinen Abschied.

Aufnahme 11:

Ein Wohnheimzimmer voll Bierdosen. Unausgepackte Kartons.

Die Verzweiflung. Die Schuld. Die Bücher, ein angefangenes Theologiestudium. Drei Sitzungen im Beichtstuhl, vier in einer Moschee, fünf bei den Zeugen Jehovas. Eine neue Stadt, aber die alte Schuld. Die Schuld und das Vermissen.

Aufnahme 12:

Die leeren Straßen Düsseldorfs.

Zwei Jahre Ziellosigkeit. Zwei Jahre Schuld.

Aufnahme 13:

Ein Screenshot. Eine Googlesuche. Die zehnte diese Woche. Ein Name. Judith Friesen. Kein Ergebnis.

Noch immer hoffte er, auf ein LinkedIn-Profil, ein Lehrstuhlwebsite mit ihrem Namen. Irgendwas, das darauf hinwies, dass sie doch noch Tiermedizin studiert hatte. Judiths Träume. Träume von Judith.

Er brach das Theologiestudium ab. Er zog nach Berlin. Er wurde für ein Fotografiestudium genommen.

Die Hochzeitseinladung hatte ihn für eine Woche lahmgelegt. Er hatte alle Shootingtermine abgesagt. Acht Jahre Funkstille und dann das: Judith und irgendein rothaariger Typ, an dessen Gesicht er meinte sich vage von einer der wenigen Jugendstunden zu erinnern, die er besucht hatte, als Foto auf hellrosa Papier. Der Einladung beiliegend eine Bitte.

Natürlich fotografierte er, auch wenn er eigentlich schon lange keine Hochzeiten mehr machte. Irgendwann kam Judith auf ihn zu. Das Strahlen und die Schuld – beide waren abgeschwächt, aber beide waren noch da. „Danke“, sagte sie. „Klar. Geht es Dir gut?“ Sie lächelte. Als nach der Predigt gebetet wurde, faltete Paul die Hände und schloss die Augen. Er betete, dass die Antwort „Ja“ war. Er fragte sie sonst nichts. Ob sie arbeiten würde oder zuhause bleiben? Ob diese Hochzeit in der Gemeinde bedeutete, dass man ihr vergeben hatte? Wem sie von der Abtreibung erzählt hatte damals? Ob sie sich vergeben hatte? Ob sie die Sonne noch spüren konnte?

Dann waren Hochzeit und Interview vorbei, er lag im Bett und konnte nicht schlafen. Paul hatte begonnen zu fotografieren, um das Greifbare wirklich zu machen. Wirkliche Wirklichkeit. Schuld war nicht greifbar. Und um nicht noch einmal so viel seiner Vergangenheit zu verlieren. Rückblickend wusste er genau, welche Momente er gerne festgehalten hätte.

Es gab nur ein Foto von damals, aufgenommen mit seiner ersten Kamera:

Man sah Judiths Gesicht kaum. Sie lag in einer großen blauen Unterhose auf seinem Bett und kehrte ihm den Rücken zu. Ihr langer Zopf lag fast genau auf ihrer Wirbelsäule. Er sah aus wie eine Schlange, die sich ihren Körper entlang auf den Betrachter zubewegte.