03.05.2024

Lippen, die schmecken und die Strickoma der U7

April 2024

Was ich an Berlin außer dem Wohnungsmarkt am meisten hasse – vor allem im Winter -  sind die langen Fahrtstrecken, aber manchmal passiert doch was Nettes für die Notes-App:

- An St. Martin schon dunkel als ich in den Bus steige, träge Depression der vorbeiziehenden Häuser. Dann auf einmal: „Sonne, Mond und Sterne.“ Eine helle, kleine Stimme. Blick nach rechts: Tatsächlich, da sitzt ein Zwerg in rosa. Singt weiter „Ich gehe mit meiner Laterne“. Und eine andere Zwergenstimme antwortet „Und meine Laterne mit mir.“ Zwei Reihen vor mir sitzt also noch ein Kind. Es ist wohl nur kleiner als der Sitz, so dass ich es nicht sehen kann. Die Zwerge singen mit und gegeneinander und ich kann mich selbst lächeln spüren. Den ganzen Bus fast. Zwei Stationen später fängt mein Kopf an mitzuwippen, dann summe ich mit. Auf einmal ist die Novembergräue nebensächlich, - cheesy, aber als wäre im Bus eine Laterne angegangen. „Rabimmel, rabammel, rabumm.“

Das Foto zeigt eine schwarze Holzwand, auf der mit weißem und rotem Stift herumgeschrieben und gekritzelt wurde. Unter anderem steht in roter Schrift "Lass mal alle ans uns selbst glauben" darauf. Die Wand ragt von rechts ins Bild und nimmt etwa drei Viertel des Bildes ein. Auf dem anderen Viertel sind der Boden der U-Bahnstation und eine einfahrende, gelbe U-Bahn zu sehen.
(c) Maria Pacurariu

- Ich wäre gerne die Strick-Oma aus der U7.

- Ein älteres Paar, nebeneinandersitzend, beide friedlich Sudoku-Hefte bearbeitend

- „Lippen müssen schmecken, weißt Du wie ich mein?“ – Junge, Bartschatten und Jogginghose zu seinem Kumpel, M19, Richtung Mehringdamm

- Durchsage am Alexanderplatz: „Ausstieg auf Seite des Bahngleises“

- Im Regio zum Wannsee, der Kontrolleur über irgendwelche Vorgesetzten: „Naja, man muss ja auch Rücksicht nehmen. Die hatten eine schwere Kindheit, mit Bachelor und Master und allem“

- Der junge Mann, der in der Ringbahn Tomatensaft direkt aus dem Karton trinkt. Für mehr Tomatensaft in der Öffentlichkeit und außerhalb von Flugzeugen!

- Der volltätowierte breitbeinige Mann in der U7, auf seinen Knöcheln prangen „Pain“ und „Hate“ – „Trust“ auf dem rasierten Schädel, „Fuck Paragraph 31“ auf der Hand. Neben ihm liegt eine große Dogge und aus seinem Handy schallt eine Kinderstimme. Er lächelt. Er telefoniert mit seinem dreijährigen Sohn.

Das Foto zeigt den Boden einer UBahn. Vom oberen Rand ragen Füße in Turnschuhen und Beine in einer Jeans ins Bild. Neben den Beinen liegt ein großer Hund auf der Seite auf dem Boden.
(c) Maria Pacurariu

- Student zu seinen Kumpels in der Ringbahn: „Wenn ich es im Leben zu nichts bringe, will ich zumindest auf die Spiegel-Bestseller-Liste“

- Der Rapper in der U3, der den ganzen Wagen mitreißt. Selbst der Chihuahua beginnt aus seiner Handtasche heraus zu bellen. Fast im Rhythmus.

- Jedes Mal, wenn jemand in gebrochenem Englisch oder Deutsche um Hilfe bittet in der Ringbahn und sich jemand findet, der die Muttersprache des Hilfesuchenden spricht. Gar nicht mal so selten.

- Zwei vielleicht Dreißigjährige. Der eine mit blauem Haar: „Ich sag ja immer, ich komm aus Karl-Marx-Stadt. Und du?“ – „Ich komm aus Paul-Maar-Stadt.“ Chemnitz und Schweinfurt also.

- Die alte Dame, die sich die ganze Strecke Warschauer Straße bis Fehrbelliner Platz mit einer Obdachlosen unterhält und ihr Mut macht, bis beide in Tränen ausbrechen vor Rührung.

- Brutal. Die aufgeschlitzten Teddybären warten an der Station Karl-Marx-Straße. Der Schnitt durch den Bauch der Plüschtiere mutet makaber an. K. meint vielleicht waren da Drogen drin. Ob der Dealer die Bären extra gekauft hat? Oder seinem Kind geklaut? Oder es sind seine eigenen Teddys – er selbst auch noch ein Kind? Ich denke an das Märchen von den sieben Geißlein. Wie Geißlein von der Mutter aus dem Bauch befreit und dem Tier dann etwas anderes eingenäht wird. Ich stelle mir vor die Teddys mitzunehmen und auch etwas einzunähen. Ein Plastikherz oder einen Brief, einen Zettel mit all meinen Wünschen. Aber ich nähe nicht. Und die U-Bahn fährt ein.

- Zwei Mädchen, beide tragen Balaclava, in der S25. Die mit dem lila Lippenstift: „Und dann hab ich zu ihm gesagt: ´Deine Lieblingsband ist vielleicht Zugezogen Maskulin, aber ich bin ungezogen feminin.´ Ist mir einfach so gekommen und ich hab mich ziemlich cool gefühlt. – „Zurecht!“

- die vom gesamten Wagon geteilte Freude über einen Regenbogen

Das Foto ist durch ein S-Bahn Fenster aufgenommen. Im Fenster spiegeln sich blaue Sitze und eine Hand. Draußen, vor dem Fenster, ist am rechten Rand ein Haus zu sehen. Über dem Haus ragt ein Regenbogen in den Himmel.
(c) Maria Pacurariu

-  Die leichtangetrunkenen Jungen, die ich abends in der U6 treffe und die für mich einen Deine-Mutter-Witze-Wettbewerb aufführen. Weiß ich jetzt auch nicht.

- In der U2, eine schöne Komposition: Der Mann, der allein in seinen Haaren mehr verschiedene Farben trägt als die Frau in Grau neben ihm.

- Irgendwann letzten Sommer die Gruppen pink angezogener Barbie-Kinogänger

- Die zwei kichernden, sich immer wieder anlächelnden, händchenhaltenden Gothgirls.

- Ich laufe zur U-Bahnstation, ich glaube Hermannplatz: Ein Mann kommt mir aus dem U-Bahneingang entgegen, er trägt eine große Sonnenbrille, einige Rosen in der Hand. „Ich hasse es drinnen zu sein“, grummelt er. Aus Spaß erwidere ich: „Und ich hasse es draußen zu sein“. Wortlos drückt er mir zwei Rosen in die Hand, lächelt kurz und läuft weiter.

Das Foto zeigt eine Treppe, die vom unteren Bildrand nach oben führt, ist also am Fuß der Treppe aufgenommen wurden. Die Treppe ist aus grauem Stein und von Wänden mit hellen Fließen gesäumt. Vom oberen Rand des Bildes ragt eine weiße Wand mit einer Metalleiste ins Bild. Auf die Metalleiste hat jemand mit schwarzem Stift "We Are One" geschrieben.
(c) Maria Pacurariu