16.12.2020

Lieblingsbrief

Dezember 2020

Wenn man versuchen würde, ein richtiges Porträt zu schreiben, käme man schnell in eine Bredouille, denn jemand wäre immer nicht da, oder verschwommen, jemand müsste eine rauchen und eine andere aufs Klo. Jemand hätte Bauchweh vor Lachen oder weil zu viel gegessen wurde. Jemand weint, vielleicht, wenn das Porträt in einer dunklen Jahreszeit aufgenommen wurde, müde Tränen. Außer mir weinen alle leise. Ich schluchze laute, aufdringliche Tränen. Am besten existiert man vor sich hin, wenn alle ein Glas Rotwein oder ein Bier in der Hand halten.
Wir sind selten zu viert, selten zu dritt, meistens zu zweit. Jede Kombination funktioniert, und jede Kombination ist schwierig. Ich beschwere mich am meisten. Ich brauche auch am meisten Bestätigung. Niemand stört es, es wird sich einfach bei einer anderen darüber beschwert, und so geht es weiter, bis sich der Zirkel des Beschwerens schließt und alles in Ordnung ist. Am meisten alles in Ordnung ist es bei Knödeln in der Knödelwirtschaft, bei scharfem Essen am Küchentisch. Es ist alles in Ordnung, wenn wir die Tagesschau gucken und Wein trinken und Pause machen, um zu sagen, wie scheiße, die Welt, ihr geht es wieder schlecht als gestern noch. Eine von euch zieht dabei an einer Zigarette. Eine lehnt vielleicht den Kopf an eine andere. Eine lacht, eine sagt was lustiges, alle lachen. Wir stellen uns vor, wir kaufen ein Dorf in Brandenburg. Am Abend mache ich die Augen zu und halte mich daran fest, halte mich an einen Vierseitenhof mit hellen Holzfußböden, natürlich haben wir kein Geld für sowas, keinen Cent übrig am Ende des Monats, aber man kann davon träumen. Eine würde ein Gemüsebeet pflanzen, es könnte Kürbis geben, Möhren, Grünkohl. Im Sommer Tomaten. Eine würde bauen, die Hände gebrauchen, nicht mehr nachdenken müssen über Verpflichtungen und Universität, nachdenken darüber, was gemacht werden muss und gemacht werden kann.
Jemanden wirklich kennen, bedeutet, dass man das Gesicht nie wieder aufs Neue sehen kann. Ein Gesicht ist dann so vertraut, wenn man weiß, wie es aussieht, wenn es so konzentriert ist, dass es sich selbst vergessen hat. Schlafen ist leicht, das passiert ständig. Für die Intimität der Konzentration muss man selbstbewusst sein, muss man sich aufgeben können und verschwinden können in dem, was man tut. Wirklich konzentriert sein, das geht nur, wenn man vergisst, wer da mit einem selbst den gleichen Sauerstoff einatmet.
Vielleicht ist das ein Lieblingsbrief: darüber, wie man sich den Rücken kraulen kann, wenn man so eng befreundet ist. Daran, wie sich Sonne in den Gläsern der Brille spiegelt, und das Braun der geliebten befreundeten Augen golden macht. Darüber, dass man laut heulen darf und das ist okay, und man muss sich nicht entschuldigen, man kann die Rotze am Pullover abschmieren. Man darf aber auch nicht heulen und sich anschauen und alles voll scheiße finden und nichts essen wollen, nur Wein trinken, und dann mit einem heißen Kopf einschlafen. Man muss nicht einer Meinung sein. Man kann auch keiner Meinung sein. Niemand braucht noch eine Meinung zum Nahostkonflikt und Man kann sich über seiner Suppe sitzend einig sein. Über seinem Wein brütend uneinig oder kein ich sein. Ein Lieblingsbrief darüber, dass es sanft ist und still und trotzdem das Beste von Allem und vom Hier. Ein Lieblingsbrief darüber, sich den ganzen Tag aufeinander zu freuen und extra schnell mit dem Fahrrad zu fahren, um sich zu sehen, weil man sich jetzt Zeit nimmt und sich anschaut. Ein Lieblingsbrief über Dates und dreckige Hintern am Kanalufer und an den Geschmack vom Sonnenaufgang. Darüber, dass man sagen kann, kannst du mich mal am Rücken kratzen und jemand weiß genau, wo gekratzt werden muss. Darüber, dass man Bier ausgibt, ein Lieblingsbrief an jedes ausgegebene Bier auf dieser Welt, das besser schmeckte, weil es ausgegeben war. Ein Brief über Lieblinge.