30.07.2024

leben spielen

Juli 2024

so dass wir eine weile hingerissen, das leben spielen, nicht an beifall denkend[1]

Wenn wir dann wieder manisch wurden, lief das eigentlich immer gleich ab: Oft abends, nachdem Marius einen Auftritt hatte, in den letzten Monaten als es mit der Band besser lief auch wochentags. Ich hatte dann den ganzen Tag über an meiner Dissertation geschrieben, war früh aufgewacht und hatte meine Schicht im Altenheim gemacht. Ich hatte bestimmt fünf Tassen Kaffee intus, machte mir gerade eine neue Kanne, wenn Marius klingelte. Schlafen tat ich wenig zu der Zeit oder verschwand dann mal für eine Woche in der alten Wohnung meiner Schwester, um das nachzuholen.

Es war meist schon nach elf und Marius stand in der Tür – ich fünf Tassen Kaffee und er sicherlich einiges an anderem Zeug intus.  „Komm her, mein Pudelkopf!“, lallte er. „Erzähl mir, wovon du geschrieben hast, heute. Und dann – und das finde ich noch heute ganz erstaunlich – hatten wir, nachdem ich Marius in den Arm genommen hatte, oft die Gespräche, die mich in meiner Arbeit am meisten weiterbrachten. Und ich redete echt mit vielen schlauen Leuten zu der Zeit, damals.

Dann dort vor dem Schuhregal, meine Arme um Marius, erzählte ich ihm kurz, was ich heute geschrieben hatte - im Prinzip ging es in der Doktorarbeit um die Geschichte von Melancholie und die heutige Umdeutung des Phänomens. Und Marius stellte mir einige Fragen, wusste auch immer alles noch, was ich ihm zuvor erzählt hatte, von Caspar David Friedrich über Deleuzes Psychatriekritik. Ich antwortete, wobei ich die Antworten oft erst in der Arbeit am folgenden Tag fand.

Und dann sagte Marius: „Und jetzt lass uns Leben spielen“ und er schob mich beiseite und suchte sich einen Weg in mein Zimmer und dann drehte er die Musik auf – „creatures of love“ von den Talking Heads oder oft auch die Sterne oder Tocotronic damals – und dann kam ich ins Zimmer – es war immer dasselbe – und dann zog er mich an den Armen hinein und zu meinen zwei großen Kleiderschränken, Erbstücke.

Und dann gab es immer ein Spiel: blinzeln und wer zuerst wegschaut und der Gewinner durfte dann anfangen und sich ausziehen und dann blind Kleidung herausgreifen. Und dann der andere und dann standen wir da in irgendwelchen der Klamotten, die ich bei Haushaltsauflösungen besorgt hatte (eine war von einem kleinen, privaten Theater – echter Glücksfund) und spielten Leben.

Wir stellten uns vor den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand und sahen uns in diesen willkürlichen Kleidern an und hatten zehn Sekunden und dann drehten wir uns zueinander um und auf einmal war Marius ein Arzt und ich ein gelangweilter Greis und Marius die Kassiererin von nebenan und ich ein wehmütiger Matrose und Marius seine umso wehmütigere Großmutter und ich ein kleines Mädchen und Marius ein berühmter Fotograf und ich seine Muse und Marius ein Ungeborenes und ich der Mann von auf der Straße gestern und Marius ein König und ich sein Prinz und er eine Koch und ich eine verrückte Katzenlady und er ein viktorianisches Waisenkind und ich Michael Jackson und er Yoko Ono und ich der lilane Teletubby  - wir waren alles und immer wieder rissen wir neue Kleidung aus dem Schrank und im Hintergrund liefen die Sterne „Wir müssen nichts so machen wie wir´s kennen, nur weil wir´s kennen wie wir´s kennen“, aber in einem Film hatte mal jemand gesagt wenn man einmal hinhörte sang es „scannen“ statt „kennen“.

Wir müssen nichts so machen wie wir scannen nur weil wir scannen wie wir scannen und wir warfen die Klamotten um uns und waren alles, waren alle, nur nicht wir selbst. Für Stunden ging das so und dann irgendwann gab es diesen Moment, wo wir dann alle Kleider abwarfen und dann fickten wir  - als die die wir gerade waren – ich als Prince Charles und Marius als Krankenschwester und er als der Geist meines verstorbenen Großvaters und ich als schlechter Rapper.

Und dann im Fick, nach stundenlangem Leben spielen wurden wir wieder wir und kehrten zurück in unsere Körper und dann schliefen wir ein und am nächsten Morgen war Marius weg und ich fuhr zur Arbeit im Altenheim und dann fuhr ich heim und sortierte die Kleidung und meine Gedanken und dann war die Zeit an der Dissertation zu arbeiten und dann irgendwann würde Marius kommen und wir würden Leben spielen wieder und so war das damals immer, wenn wir manisch wurden.

 



[1] Zitat aus Rilkes „Todeserfahrung“

Ein Gemälde zeigt eine gezeichnete Hand, vor einem Hintergrund von bunten Aquarellfarben.
(c) M. Păcurariu