10.02.2020

In Zahlen

Februar 2020

Der Kühlschrank ist voll mit nichts zu essen. Ich erwäge stark, den Babybel zu suchen, um den ich am Boden meiner Handtasche weiß, ungefähr genau sieben Male hat er schon den Aggregatszustand gewechselt, ich fühle ab und zu, ob er grad weich ist oder hart und weiß dann, ob es gerade heiß ist oder kühl. Ganz schön praktisch, so ein wetterbesagender Babybel, denke ich, und erwäge, mein Handy ein zweites Mal in einem Caipirinha zu ertränken.

Außerdem in meiner Handtasche sind elf bis siebzehn lose Tampons verschiedener Größen, die panisch bei DM gekaufte Verpackung ebendieser, mit Klopapier in der weißen Unterhose.

Eine Packung Streichhölzer mit einem poetischen Spruch drauf, ein Reclam-Heft mit poetischen Inhalten, die mir nicht gefallen haben, zu viele Reime. Weitere unnötige Zahlen, in meiner Handtasche und um mich rum: an ihrem Boden auch noch eine halbgetrunkene Nullkommavierliter-Berliner-Luft von diesem Morgen, an dem wir barbusig und barherzig auf Eurem Dach überlegt haben, ob die Sonne in echt schon verbrannt ist, während sie langsam und dann ganz schnell aufgeht und warum es Steine gibt. Außerdem ein paar Sticker von der Schaubühne und einer auf dem BUNT STATT BRAUN steht, keine Ahnung, wo ich mir den hinkleben soll, in meinem Zimmer ist alles weiß, das stimmt also nicht.

Eine einklappbare Zahnbürste und ein paar Packungen Aspirin Effect, außerdem eine lose, lilafarbene Schlaftablette, die ich mir aus den Vereinigten Staaten der verschreibungsfreien Medizin mitgebracht habe und eine noch verpackte Durchfalltablette im Falle eines Streits oder zu vieler Zigaretten. Eine dreckige Unterhose, die vom letzten Schwimmbadbesuch dort geblieben ist.

Noch mehr Zahlen: ich besitze drei T-Shirts von zwei Buchläden, das älteste habe ich seit 2010, es hat einmal jemand draufgekotzt, das kann ich aber mittlerweile wieder ganz gut vergessen. Unter meinem Kopfkissen liegen drei dreckige Ohropax, auf meinem Nachttisch drei angefangene, ein gelesenes, vier ungelesene Bücher auf einem Stapel. In mir schlagen siebzehn Herzen, eins davon in jedem großen Zeh und eins da wo andere ihr Hirn haben.

Ich habe schon circa vierundsiebzig Sims ertränkt, glaube aber, diese Morde verjähren mit der Zeit. Der Kühlschrank ist voll mit nichts zu essen.

Auf meiner To Do Liste stehen acht To Dos von denen ich eins schon durchstreichen konnte. Auf meinem Schreibtisch fünf leere Wassergläser und sechs Pfandflaschen, außerdem eine Smoothieflasche, ich beobachte sorgfältig, wie der Schimmel wächst. Macht das Zimmer etwas bunter.

Zweitausendneunzehn habe ich schon sehr oft, wahrscheinlich fünfzig Mal, All Good Things von Nelly Furtado gehört und einmal Deine Schuld von den Ärzten, habe aber bei ersterem kein einziges Mal mitgeschrien und bei letzterem umso lauter, in meinem mit Menschen gefüllten Wohnzimmer, das wärmer war als die wahrscheinlich schon tote Sonne.

Ich habe heute zwei Knoblauchzehen geschnitten und vier meiner Fingerspitzen riechen noch danach, habe zwei Eiscremesandwiches aus unserem Gefrierfach genommen und sechseinhalb Folgen zwei verschiedener Serien geschaut, viereinhalb davon im Bett und zwei auf dem Sofa.

Heute habe ich dreiunddreißig Mal gelacht, zweimal geweint.

Zwei Polizisten in der Wohnung gehabt und eine Polizistin, einen Mann vom Balkon gesehen, der ein lilafarbenes T-Shirt trug und eine Frau, die er zu kennen schien, Fotze schrie und schubste. Kann man jemanden etwas schreien, und wenn nein, wieso nicht, man kann ja jemanden auch etwas rufen. Er hat sie aber nicht nur ganz ruhig „Fotze“ gerufen, er hat geschrien, und die Leute beim indischen Restaurant haben trotzdem nur ihr suppiges Curry gekaut und sich nicht einmal gefragt, warum denn niemand was macht. Sein T-Shirt war so lila wie die Schlaftablette.

Ich bin der 1.775.883dste Mensch, der sich ein lustig-trauriges Livevideo einer lustig-traurigen Band bei YouTube anschaut und wahrscheinlich der hundertzwölfte, der gerade in seinem blauen Computerlicht am Nachtschreibtisch sitzt und nur schreibt, um müde zu werden und nicht wach liegen zu müssen und Fehler zu zählen.

Fehler habe ich ganz viele, sie liegen auf meiner Schreibtischablage und stecken mir in den Fersen, ich beziehe das Bett mit ihnen und schminke meine Wangen mit ihnen. Vier meiner Fehler: ich hasse Zahlen, ich finde sie nur funktional und gar nicht schön, ich bin zaumlos, nichts hält mich im Zaum, aber auch nichts außerhalb davon, bin nur zaumlos, ich bin so schmerzempfindlich, dass ich mir meinen eigenen Schmerz manchmal nicht abnehme und ich bin sehr schnell beleidigt.

Vier Fehler und andere fehlen noch, aber ich habe nun genug von Zahlen und bin synthetisch müde, was besser ist als es gar nicht zu sein.