20.06.2024

Hunger/Rosen

Juni 2024

Trag' zwei Herzen in der Brust
Antifa und Abiball
(Hehehehe) Hahaha

Trag' zwei Herzen in der Brust
Antifa und Abifahrt
Schreiben deepe Hymnen
Und die Hook singt Manny Marc

-      “Doppelherz” von Audio 88 und Yassin

mit Bleistift und Wasserfarben gezeichnetes Portrait
(c) M Păcurariu

Am Ende hat Rosa es immerhin bis zum Hauptbahnhof geschafft. Das ist etwas. An gnädigeren Tagen würdest Du vielleicht sagen: Das ist viel. Danke, das bedeutet mir viel. Nein, klar, wäre auch viel zu stressig gewesen mit den ganzen Bürgikids und den vielen Leuten. Klar.

Foto von einer Hauswand aus braunem Stein mit vielen kleinen Fenstern
(c) M. Păcurariu

Aber irgendwann reicht das nicht mehr, weißt Du? In ihrer Einzimmerwohnung sitzen und Theorie lesen. Es gibt nur so viele Marx/Engels-Schriften und nur so viele Male, die es reicht in der Küche gefingert zu werden und nur so viele vegane Bananenpancakes, die Du machen kannst, bis Du satt bist/ Erst bist du satt/ Und dann hungrig/Hungrig, so hungrig wie noch nie, dass Du glaubst deine Haut zerfleischen zu müssen, um in etwas Neues überzutreten/ Hungrig auf das Draußen/ außerhalb eures Dunstkreises/ Außen, das dir keine Angst mehr macht/ Angst macht Dir nur noch Enge/ Und du musst immer „Auf und davon“ von Casper hören, laut mitbrüllend auf dem Fahrrad nachts im Park/ Und du musst immer weinen deswegen/ in den wenigen Nächten, die Du noch in deinem eigenen Bett schläfst/ und zweimal auch bei Rosa auf dem Klo/ Und der Tag, an dem Du es endgültig weißt ist ein Dienstag im Juli

Es ist Endlevel Teenage-Edgelord, aber genau was Du wolltest: Sich im einzigen Gruftiladen der Stadt einen riesigen schwarzen Tüllrock kaufen und ein Korsett. „Immerhin brauchst Du keine Schuhe“, sagt deine Mutter mit Blick auf deine Doc Martens, weil es klar ist, dass Du eh die tragen wirst und sie lächelt, zahlt Dir das Abiballkleid und sucht noch einen passenden Gürtel aus. Es ist ein unerwartet friedlicher Moment. Und sie sagt: Lass uns noch ein Eis essen.

(Vielleicht ist es das, was für Dich gelungene Integration bedeutet: Dieser Moment, Teenageedgelord im EMP, aber gleichzeitig den zweitbesten Abischnitt, einer mit Null vorne dran. Hier kommen sie. Deutschland den Gothprincesses mit Mommy Issues und Migrationshintergrund. Sie werden euch platt machen. Und ihr wisst es schon)

Du hast Rosa ein Bild geschickt, auch ein kurzes Video von Dir in dem Kleid. “Schön!”, schreibt sie. “Queen! I love you! Marry me! Baby, Du siehst so schön und hot aus ahhhh”

Foto von einem Fensterbrett, auf dem ein Puzzle und ein schmales Buch steht
(c) M. Păcurariu

Es gibt diese Momente zwischen den Episoden, in denen ihr händchenhaltend durch den Supermarkt lauft und Du kannst es sehen/ Das Ende der Ewigkeit/ Und das Gegenüber deines Lebens, weißt Du, es steht drüben vor dem Regal mit den Backwaren. / Es gibt diese Momente

Also am Hauptbahnhof treffen. Alles klar. Du schleichst Dich also früher von der Abifeier. Nee, ist klar. Zu der inoffiziellen Feier später im Club wolltest Du eh nicht. Auch wenn Jette etwas enttäuscht blickt. “Die spielen da bestimmt nur miesen Chart-Pop und besaufen sich, da hab ich keinen Bock drauf”, sagst Du. Entschuldigendes Schulterzucken und Du glaubst Dir fast. Auf dem Weg nach draußen lässt Du noch zwei Rosen mitgehen. Zwei Rosen für Rosa. Dann im Freien. Du atmest dem Himmel entgegen. Zwölf Jahre einfach vorbei. Und jetzt? Kommt jetzt die Freiheit?

Foto von einer gelben Rose vor grünen Fliesen
(c) M . Păcurariu

Du rennst auf sie zu, stolperst nur einmal über die Schleppe des schwarzen Tüllrocks. Unter der Anzeigetafel im Hauptbahnhof schlingt sie ihre Arme um dich, ihr küsst euch. Hier in der Öffentlichkeit kannst Du sie küssen. Die Öffentlichkeit das ist etwas anderes als deine Eltern. Du küsst sie lang. Du trägst das Kleid deiner Träume/ In deiner Hand zwei geklaute Rosen/ Es gibt Momente, die schuldest Du deinem vierzehnjährigen Ich/ schickst sie mit Grüßen in die Vergangenheit/ Look: We made it.

„Liebst Du mich?“, fragt sie einmal. Ihr hattet euch zwei Tage nicht gesehen/ Und du weißt schon, die immer nagende Unsicherheit. Und du liebst Rosa wirklich. Liebst sie wirklich, aber…

Es gab diesen Sticker früher, als Du noch bei der Interventionistischen Linken warst. Do not move to Berlin, support your local Antifa. Als Okan dann doch nach Berlin gezogen ist, hast Du ihm zum Abschied dein Lieblingsbuch geschenkt, eins, in dem Du mit Bleistift die Stellen unterstrichen hast, bei denen Du immer weinen musst und eine Karte mit diesem Sticker drin. Im Scherz natürlich: Do not move to Berlin. Support your local Antifa.

Ihr habt euch die Borderline aus den Seelen gefickt/ habt euch aneinander festgehalten und weißt Du/ wie ihr einander immer gesagt habet: „Schau mich an, wenn Du kommst“/ das war eure Art in der Wirklichkeit zu bleiben/ euch von Blicken, Körpern und Lust durchbohren zu lassen/ Euch an der Wirklichkeit festzunageln/ bis ihr nicht mehr aus dem Fenster singen wolltet.

Du hasst, dass du genau wusstest, dass es der letzte Tag sein würde. Du hasst es auch heute noch.

Du musst gehen. Du sagst Rosa nichts davon, dass Du dich in Berlin für Jura bewirbst. Du hast vorher gegoogelt. Es gibt kritische Jurist*innenvereine dort und Du glaubst nicht, dass Du ein Jurastudium hier an der Kleinstadtuni ertragen könntest. Aber es reicht Dir eben nicht mehr Theorie zu lesen. Du denkst daran wie deinem Vater nach Jahren in Deutschland dann die deutsche Staatsbürgerschaft wieder aberkannt wurde. Obwohl das doch nicht gehen sollte. Was wenn er sich damals einen Anwalt genommen hätte? Du denkst, dass Rosa das nicht verstehen kann. Oder vielleicht doch. Aber Du weißt, sie kann nicht mitkommen. Jetzt kommt die Praxis, denkst Du. Du schickst die Immatrikulationsunterlagen ab.

Foto von einem ausgekippten Puzzel
(c) M. Păcurariu

Rosas und dein Wahnsinn waren nicht derselbe, vielleicht nicht einmal der gleiche, aber trotzdem warst Du nie so nah dran an jemandem/ du hoffst, dass du es wieder sein kannst, irgendwann, vielleicht nicht auf so eine Art/auf eine ähnliche/

wegzuziehen ist das verlogenste und ehrlichste was Du je getan hast und Du weißt Du kannst Rosa vorher nichts sagen. Das ist das schlimmste.

Der Hunger trägt den Namen von Städten. Der Hunger wird dich in Vorlesungssäle tragen. Der Hunger ist angetrieben vom realen Hunger, immer noch/ Disarstar: Nach all den Jahren geht’s noch immer um Hunger/ Die ersten Wochen wirst Du bei Okan auf der Couch pennen. Um dich im Saal herum wird ein Meer an Ipads sein. Hunger, wirst Du denken. Du wirst den Block aufmachen und schreiben.

Der Zug nach Berlin geht um 7:08 und es ist erstaunlich leicht einzusteigen, den großen Rucksack im Gepäckfach zu verstauen und sich auf irgendeinen Platz am Fenster zu setzen. Du steckst die Kopfhörer in deine Ohren, aber Du machst die Musik nicht an. Alle Playlists scheinen plötzlich unpassend. Du kennst den neuen Soundtrack noch nicht.

Foto aus dem Fenster eines Zuges auf die Landschaft
(c) M. Păcurariu