29.05.2024

Haifischfrau/
the killer in me

Mai 2024

Nach Walter Gramattés Portrait von Rosa Schapire, 1920, Neue Nationalgallerie Berlin

Die alte Frau unter mir hört manchmal nachts die Smashing Pumpkins und wenn ich das Fenster aufmache, kann ich sie auch leise mitsingen hören. Wenn ich mal wieder schlaflos bin, was ziemlich oft der Fall ist, seit ich in die große Stadt weit weg von dir gezogen bin, liege ich dann da und stelle mir vor, dass sie in einem Kopfaquarium ihrer Vergangenheit lebt. Voll von bunten Fischen, die sich im Wasser um sie drehen. Ich stelle mir vor, dass sie eine sehr funkelnde Frau war – noch immer ist. Dass es für sie da keine Grenze gibt, Zeit für sie nicht linear verläuft, sondern in einer Gleichzeitigkeit inexistent ist. Ich stelle mir vor, dass sie immer allein geblieben ist, unterbrochen von kurzen Liebschaften, alle langfristigen romantischen Bemühungen zurückgewiesen hat.

Manchmal, stelle ich mir vor, dass einige ihrer alten Verehrer*innen vorbeikommen. Es sind vor allem Männer. Männer, die verheiratet waren oder sind, Kinder, vielleicht auch Enkel haben. Diese verblassten, nie erblühten Männer haben sich an ihre Jugendliebe erinnert – vielleicht haben sie sie nie vergessen. Sie klammern sich an die Hoffnung, dass sie ihnen wieder Leben einflößen kann. Sie haben in Telefonbüchern und manchmal auch im Internet nach ihr gesucht. Die alte Frau hat schon oft überlegt, ihre Nummer endlich aus dem Telefonbuch streichen zu lassen. Aber vielleicht mag sie es manchmal, Besuch aus der Vergangenheit zu bekommen, die für sie damit am Leben bleibt, Gegenwart wird, auch gestern hätte stattfinden können. 

Eine gemaltes Porträt in bläulichen Farben von einer alten Frau in weißem Kleid und weißem Haarknoten.
(c) Walter Gramatté, Public domain, via Wikimedia Commons

Wenn sie dann da sind, bittet die Frau sie in ihre Wohnung, weil sie nun schonmal da sind. Die Männer – meistens sind es Männer – lässt sie auf dem Sofa Platz nehmen. Sie selbst setzt sich auf einen Stuhl neben der Kommode an der gegenüberliegenden Wand. Fragend, fast belächelnd, immer stolz aufrecht, stelle ich mir vor, wie sie dann da sitzt, die Arme verschränkt. Die vergangen Jahre verflüssigen sich plötzlich auf den wenigen Metern Abstand zwischen der Frau und ihren Besuchern. Das Wasser ihres Wohnungsaquariums denke ich mir plötzlich dunkel, es ziehen Haie umher. Angst haben die Männer aber plötzlich vor der Frau, nicht vor den Haien. 

Da sitzen sie also: die Anzugträger und pensionierten Geschäftsmänner, Ärzte und Familienväter. Sinken ein in der Plüschcouch und in ihrer Vergangenheit. Es scheint, als würden sie und ihre Leben sich im Wasser spiegeln. Die Frau sitzt dann nur da, wartend mit durchbohrendem Blick. Die Männer räuspern sich, stammeln dann ihren Namen. Vielleicht einen Kosenamen, den sie früher für sie gefunden hatten, in dem einen Sommer, den paar Wochen oder an dem einen Abend, an denen sie bei ihnen war. Die Frau erinnert sich kaum an die Kosenamen, es sind für sie nur Hirngespinste. Namen, gegeben von Männermündern, von ihr nicht getragen. 

Aber die Männer wachen seit Jahren mit diesen Kosenamen auf den Lippen auf. Ihre Frauen haben sie ihn manchmal im Schlaf rufen hören. Einer, ein Anwalt, bekam gelegentlich im Gericht oder im Büro ein merkwürdiges Ziehen in der Brust. Dann ging er immer aufs Klo und flüsterte den Namen, den er der Frau gegeben hatte. Einen ganzen Herbst lang hatte er sie geliebt, damals, dann war sie weitergezogen. In eine andere Straße oder in eine andere Stadt. Wenn er dann in diesen Designerklos ihren Namen geflüstert und sich dabei im Spiegel betrachtet hatte, fühlte er sich besser. Er ging zurück an den Schreibtisch oder in den Saal – er war ein sehr erfolgreicher Anwalt.

Und da saß er dann, dieser Anwalt, da sitzen sie dann diese Männer und sinken immer tiefer in die Couch, während sie von den Haifischen im Meer der Frau eingekreist werden. Aber die Haifische sind nichts gegen den Blick der Frau. Die Männer sehnen sich nach einem idealisierten vergangenen Zustand und stammeln etwas von guter alter Zeit, unvergessener Liebe. Diese gestandenen Männer werden ganz verlegen, plötzlich, werden fast wieder Kinder. Manchmal, denke ich mir, weinen manche von ihnen. Und dieses Weinen, eine seit Jahren zurückgehaltene Verzweiflung, ist auch die größte Katharsis, die sie von der Frau erfahren werden. 

Denn die Frau sagt nichts, sie sitzt nur stumm da und wartet. Dann bietet sie ihnen Tee an, wartet geduldig bis sie ihr Zeug wieder packen und gehen. Hier in ihrem Aquarium sind ihre Worte nur Luftblasen, die Besuche der Männer nur Wellen. Die Tränen der Männer werden Teil ihres Ozeans. Ihre gestammelten Lippenbekenntnisse erinnern die Frau an jene Tage, die ihr genauso unbedeutend scheinen wie der Gestrige. Sie versteht die Männer nicht, die sich nach ihrer Jugend und der damaligen Sorglosigkeit sehnen. Die sich nach ihr sehnen. Für sie stellen sie eine Simultaneität an umherwobenden Geliebten, an Begegnungen dar. Die Männer kommen selten ein zweites Mal.

Wer die Frau in meiner Vorstellung ist? Vielleicht eine Malerin wie du, stelle ich mir vor. Oder eine ehemalige Sekretärin. Es spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass sie ist. Dass sie ist und die Smashing Pumpkins hört. Ob sie dazu tanzt? Vielleicht ist sie eine Tänzerin. Ich sage „ist“, weil es für sie dasselbe bedeutet wie „war“ in ihrem Kopfaquarium der aufgelösten Chronologie. Sie hört Musik und bekommt Männerbesuche, mehr kann ich mir aber nicht vorstellen, nur rätseln. Das Wasser lässt wenig Licht durch.

Und ich? Ich sitze hier in der großen Stadt. An meinem Fenster und höre die Smashing Pumpkins von unten. The killer in me is the killer in you, my love. Ich sitze am Fenster und stelle mir Dinge vor. Ich tanze nicht. Ich bin keine Tänzerin. Draußen ist es dunkel. Ich frage mich, ob ich wohl auch so werden kann wie die Frau. Ein Kopfaquarium in meinem Zimmer, das voller ist als diese Stadt, in dem Fische umherschwimmen und manchmal ein geliebter vorbeischwappt. Ich denke, dass ich dafür stärker daran arbeiten müsste, das Konzept „Zeit“ aufzugeben. Oder das Konzept „Gesellschaft“. Oder das Konzept der romantischen Liebe. Ich lache. Ich frage mich, ob die Frau das hören kann unter Wasser. Wahrscheinlich nicht.

Einmal habe ich sie im Treppenhaus getroffen. Sie trug einen Hut und einen grünen Mantel. Ich hatte da gerade eine Pflanze gekauft. Die, die jetzt neben mir auf der Fensterbank steht. Ich trug sie mit beiden Händen und die Frau hat mir die Tür zum Aufzug aufgehalten. Sie selbst nahm die Treppe. 

Ich sitze am Fenster und stelle mir vor, dass heute wieder ein Tag war, an dem einer der Männer vorbeigekommen ist. An dem die Haie wieder ihre Kreise gezogen haben. An dem das Meer noch ein wenig weiter und die Mulde im Wohnzimmersofa noch ein wenig tiefer geworden ist.

Gedankenverloren streifen meine Finger die Blätter der Pflanze. Der Wind weht ins Zimmer. Ich sollte wirklich das Fenster schließen. Es ist kalt draußen. Mein Blick wandert zum Kalender drüben an der Wand. Fünf Monate ist dein letzter Besuch her, sagt der Kalender. Plötzlich kann ich die Männer von unten verstehen. Ich sollte den Kalender abhängen. Meine Hand reißt ein Blatt der Zimmerpflanze aus. Ein ganz kleines neues. Im Aquarium der Frau unter mir gibt es bestimmt weder Kalender noch Pflanzen, nur Gleichzeitigkeit. Aber hier oben bin ich fern davon, so fern wie du weit weg bist. Ich lasse das Blatt aus dem Fenster fallen.