18.04.2024

Glitzern zwischen den Asphaltsteinen

April 2024

Es ist ein Tag ohne Zeit, taglose Glieder zwischen zerknitterten Laken, an dem Sascha nichts rettet, nur wie sie dann auf dem Balkon sitzt und im Dämmerlicht auf die Kreuzung Greifswalder Ecke Danziger herabblickt und wie einer, den sie liebt, dann am Telefon Durs-Grünbein-Gedichte vorliest und wie sie über Barockphobie weinen muss. Ein Tag, von dem nichts bleibt eigentlich und vor allem keiner, an dem man jetzt noch etwas für die Uni tun könnte, aber immerhin einer, an dem Sascha sich dann doch rafft, gegen halb zehn und sich menschlich macht und dann aus dem Haus losläuft in die Nacht.

Maria Păcurariu
Das Foto zeigt den Blick von einem Balkon auf eine mehrspurige Straße. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind mehrere Häuser vor einem leicht bewölkten Himmel zu sehen.

Es ist ein Tag, in den der gestrige so hineingefasert ist, an dem Artem bis 5 Uhr noch gemalt hat, nur saß und gemalt hat. Vor Tagen noch Frankfurter Lähmung im Bett - jetzt Reizüberflutung Berlin. Aber gestern Nacht hat er gemalt und heute ist die Ausstellung in der Zentrale und Artem lässt sein langes Haar offen über Schultern fliegen. Lang ist es, wie sein Rock und es ist einer der Tage, an denen er sich fast schön fühlt. Und dann ist da noch Ella.

Es ist ein Tag mit zu vielen Leben, aber immerhin draußen und zwischen Berlinale und Jobmesse, Wg-Chaos auch ein Sein und ein wenig Frühjahrsmanie. Und dann will Hannah doch noch zur Ausstellung in dieser Location, der Zentrale, zu der Sascha sie eingeladen hat, gestern zwischen Küche und Klo.

Es ist ein Tag wie jeder und einer von aufgeregtem Schweben und Ella trägt ihr inneres Kind zur Schau mit der gemusterten Hose und die Federmütze aus Paris zum Paillettenhemd. Es ist der Tag nach dem, an dem Artem für die Ausstellung und vielleicht auch, um sie zu besuchen, nach Berlin gekommen ist und Ella ihn am Hauptbahnhof abgeholt hat, ihr Strahlen hinter einem sparsamen Lächeln im Zaum haltend.

Es ist der Morgen danach, an dem Ella ihn betrachtet, wie er daliegt, neben ihr im Bett, nachdem er gemalt hat bis in die Nacht. Nachdem sie ihm die Stadt gezeigt hatte. Erst hatten sie beide gearbeitet: Ella saß da und strickte etwas für ihre Semesterabschlusskollektion und er malte und malte und dann ging sie schlafen und er malte weiter und sie dachte noch: Er kann es doch und er will es doch wirklich. Und er ist doch so wach. Und es war einer der Momente, in denen sie dachte: Wenn ich ihn nur öfter schütteln könnte, könnte er an sich glauben. Und dann schlief sie ein.

Maria Pacurariu
Das Foto zeigt ein Stück eines Bettes, neben dem eine Malunterlage mit verschiedenen offenen Farben steht.

Es war auch einer der mittlerweile vielen Tage, an denen sie sich angekommen fühlte. Den stolpernden Artem an der Hand, hatte sie das Ziel fest im Griff. Berlin - das war jetzt ihre Stadt und es war richtig und an der Zeit gewesen aus Frankfurt wegzugehen.

Und jetzt liegt sie da, betrachtet sein Haar und da ist noch etwas Blaues darin, ein wenig Farbe. Wenn er aufwacht, denkt Ella, wird sie ihm die Farbe vorsichtig herauslösen und ihm den Schlaf aus den Augen reiben. Aber jetzt schläft er noch, sein Atem geht tief und regelmäßig und eine Weile versucht sie ihren damit zu synchronisieren. Es geht nicht. Selbst ihr Atem ist seinem immer zwei Schritte voraus.

Die Zentrale ist ein besonderer Ort. Das weiß Sascha, sobald sie die Außenstufen der alten Videothek heraufläuft. Drinnen sind junge Menschen wie Kunstwerke, Engel mit leuchtenden Augen. Der obere Stock läuft nur an den Wänden entlang. In der Mitte ist Abgrund hinabzuschauen dahin, wo die Engel der Stadt sich zum Techno bewegen und sich wiegen im Beat und wissen sie sind schön. Sascha möchte die Treppe herablaufen und Teil werden der Verschmelzung, der geteilten Einsamkeit auf der Tanzfläche, eine manische Königin im Licht unter der Discokugel – doch da sieht sie Hannah und Hannah winkt.

Denn Hannah weiß trotz allem noch, wie das abläuft bei solchen Veranstaltungen und an der Bar hat sie sich gleich durchgefragt zu Tatjana, die das hier alles organisiert und jetzt steht sie da und Tatjana gibt ihr einen Gin Tonic aus und erzählt:

Vom Spirit der Neunziger und davon wie damals überall so Konzepträume waren/Weißt Du? Einfach so leere weiße Räume, nur mit einer Bar, in die man reingekommen ist und Kunst gemacht hat/ sich die Welt neu gesponnen hat/ einfach so weiße Räume ohne viel Aufwand, wo immer andere Gruppen und Leute drin waren, wo immer was ging, wo diese Idee von Berlin existierte…./

Und Tatjana erzählt davon, wie sie diesen Spirit weitertragen will in diese alte Videothek, die jetzt die Zentrale ist. Und Sascha denkt, dass sie schon fast etwas aus der Zeit Fallendes hat, wie sie da steht, mit den Händen gestikuliert - the life of the party. But the party was in the 90s, babe, and it´s over now. Auch etwas Wichtigtuerische liegt in der Luft, das Sascha an solchen Tagen eher schlecht ertragen kann. Von einem Immobilientypen, den sie kennt, hat Tatjana die Videothek zu guten Konditionen bekommen und sie könne das hier betreiben bis schließlich das gesamte Gelände eingestampft werden soll. Lesungen abhalten, Kreativtreffs, Performances, Ausstellungen. Tatjana wisse also nicht, wie lang es die Zentrale noch gäbe. Kündigungsfrist von einem Monat – aber bitte keine Proteste oder Petitionen, das will sie den Immobilienleuten nicht antun, die das hier ja auch toll fänden. Und überhaupt bei der Baukrise wird das bestimmt alles eine Weile dauern.

Maria Pacurariu
Das Foto zeigt eine Gruppe Menschen, die in einem Raum tanzen. Sie sind von oben herab fotografiert. Durch den Vordergrund läuft ein gelbes Geländer.

Und gleichzeitig sieht Sascha, dass der Raum, der hier geschaffen wurde, großartig ist, dass die Leute strahlen und träumen und sie selbst ein wenig träumen kann wieder. Was ein wenig Freiraum anrichten kann. Und sie merkt, wie sie nickt und Tatjana anstrahlt. The party ist over, babe. But maybe, just not yet. Und sogar wenn, dann ist das hier eben eine neue Feier mit anderen Gästen und anderen Träumen, aber tanzen können sie trotzdem. Und die Kunst an den Wänden ist immer noch wahr. 

Maria Pacurariu
Das Foto zeigt einen jungen Mann, der vor einer Wand steht, an dem zwei gemalte Bilder hängen. Am linken unteren Rand des Fotos lehnt ein drittes Bild.

Artem ist da und auch neben sich und er springt herum und immer wieder blickt er auf die Wände – seine Bilder! Seine Bilder in einer Ausstellung! Seine Bilder in Berlin! Und kurz kann er träumen, träumt von Bedeutung und blickt seine Bilder an – das tulpengeschmückte Triptychon. Das eine Bild zeigt Mert, seinen ehemaligen besten Freund. Es ist das Bild, das er gestern Nacht noch fertiggemalt hat. Er hat Mert ein Foto davon geschickt. Zwei blaue Haken auf WhatsApp, aber Mert hat nicht geantwortet. Und über die Bilder hat er Tulpen aufgehängt vom Aldi nebenan. Tulpen wie die Graffiti, die er 2019 in Offenbach immer getaggt hat. Fast so, als hätte alles zu diesem Moment geführt. Vor Aufregung trinkt er zu viel Mate und ist viel zu aufregt und muss dauernd aufs Klo. In der Toilettenkabine steht, an die Wand geschmiert:

HÖRT AUF ZU KOKSEN UND FANGT AN STÄNDIG KUNST ZU MACHEN IHR ABGEHOBENEN PARASITEN! GEZEICHNET ARBEITERKLASSE

Maria Pacurariu
Das Foto zeigt eine weiße Wand in eine Klokabine voller Graffitis. Zentral ist ein Graffiti mit der Aufschrift

Gezeichnet Arbeiterklasse. Artem lächelt und gleichzeitig ist er so froh clean zu sein. Hört auf zu koksen, ja – fast ein Jahr schon. Gezeichnet Arbeiterklasse. Er denkt an 13-Stunden-Schichten, nach denen er so müde ist und Träume, in denen er ständig Kunst macht und nicht müde sein muss und auch ein wenig an seine Eltern. Und ob sie stolz wären. Vielleicht wird er ihnen ein Foto schicken von der Ausstellung, seinen Bildern an der Wand und den hängenden Tulpen. Vielleicht.

Sascha flüchtet sich vor den Technoengeln und der Reizüberflutung auf die Toilette. Ein jeder Engel ist schrecklich, schreibt Rilke. Manchmal ist die Schönheit der Menschen schwer zu ertragen. Die Schlange vor den Klokabinen ist lang. Eine Gruppe verlässt zu viert die Kabine und sie kann im Vorübergehen hören wie ein Vokuhila (männlich) zu einem anderen (vermeintlich weiblich) sagt: „Er hat mir so das Herz gebrochen und das schlimmste: Er hat mir Moabit geklaut“. Sascha muss lächeln.

Später betrachtet sie wieder die Kunst an den Wänden. Ausstellungsstücke konkurrieren mit den Kunstwerken auf der Tanzfläche. Gleichermaßen Zeugnisse eines göttlichen Gedankens.

Es gibt ein Bild, das sie anzieht. Blau und in der Mitte ein gelber Fleck. Wie Wellen schlagen blaue Farbstreifen über seiner Zartheit zusammen. Immer wieder kehrt sie zu diesem Bild zurück. Immer wieder muss sie es ansehen. Für die guten Bilder findet sie keine Worte. Sie denkt an dieses eine Zitat von Hopper oder so: „Wenn ich es in Worten sagen könnte, gäbe es keinen Grund zu malen.“

Foto: Maria Pacurariu, Gemälde: Женя Сидора
Das Foto zeigt ein Gemälde, auf dem blau, grau und Brauntöne in verschiedenen Flächen zusanmmen laufen. In der Mitte blüht eine gelbe Blume auf.

Die Ausstellung ist vorbei. Hannah steht oben am Ausgang und wartet auf Sascha. „Dieses eine Gemälde unten, das große – ist es dir auch so aufgefallen?“ Sascha nickt und Ella hört das Ganze zufällig und dreht sich zu den beiden um: „Das hat Artem gemalt, ihr müsst ihn treffen. Das wird ihn so freuen!“ Noch während sie das sagt, winkt sie Artem zu sich. Dann schaut sie Hannah ein zweites mal an: „Wahnsinn, Du hast so ein tolles Gesicht! Darf ich ein Foto von dir machen? Ich würde dich so gerne malen!“ Also macht sie ein Foto und da steht Artem vor ihnen. „Das ist dein Bild?“ Er wird rot. „Es ist unglaublich!“

Und dann laufen sie doch noch einmal runter die Treppe, um das Bild noch einmal gemeinsam anzusehen. Denn es ist ein Bild, das man immer wieder betrachten möchte.

Vor dem Gemälde stehend flüstert Hannah Sascha zu, dass sie irgendwie das Bedürfnis hat das Bild zu kaufen. Und Sascha nickt, merkt dann: Genau das hat sie auch gedacht. Dieses Bild für ihre WG-Küche. „Wieviel kostet das Bild denn?“, fragt Hannah. Und angesichts Artems Freudentaumel ist es dann eigentlich schon beschlossene Sache.

Maria Pacurariu
Das Foto zeigt den gleichen jungen Mann, der auch auf dem vierten Bild zu sehen ist, wie er hinter dem Gemälde vom sechsten Bild steht.

Und man merkt spätestens da, dass Artem langsam den Boden verliert unter den Füßen und heute Abend darf er auch abheben – das erste verkaufte Bild: und vielleicht ist da ja doch was dran an der Kunst und er kann es nicht glauben und strahlt Ella an und sie strahlt zurück, ihr Blick sagt: Siehst Du! Und Hannah fragt, ob sie alle noch ins Willy Bresch gehen wollen, vielleicht.

 Und sie laufen euphorisiert die Greifswalder entlang, reden durcheinander:

„Hängst Du nicht zu sehr an dem Bild, um es zu verkaufen?

„Schon ein abgefahrener Ort, oder?“

„Es hing ja ewig über deinem Bett“

„Und irgendwie ist auch diese Endlichkeit der Zentrale schön, oder?“

„Ich mag es schon gerne, aber…“

„Also dass man immer denkt, dass man den Raum jetzt noch nutzen muss!“

„Wenn es jemandem anders Freude macht wie mir, dann macht mich das noch glücklicher.“

„Nee, Blödsinn! Du bist einfach nur eine verkappte Romantikerin!“

Maria Pacurariu
Das Foto zeigt einen Hauseingang, über dem ein grünes Schild hängt. Auf dem Schild steht

Artem sagt - jetzt schwebt er wirklich schon 20 Zentimeter über dem Boden - dass er sich vielleicht doch noch auf einer Kunstschule bewerben sollte und Sascha ruft: Gute Idee! Und dann fahren sie mit der Tram die eine Station bis zur Danziger und dann sind sie im Bresch und am Nebentisch sitzt ein Mann, der aussieht wie Dostojevski und sie drehen sich alle zu auffällig nach ihm um. Sie alle sind noch berauscht und Artem kann es nicht glauben – sein erstes verkauftes Bild! -  und Ella sagt immer wieder, wie schön Hannahs Gesicht ist, dass sie sie unbedingt malen muss. Und Sascha denkt, dass sie wieder weiß, heute Abend, warum sie nach Berlin gezogen ist, warum sie Berlin liebt in solchen Nächten und sie denkt an die geteilte Idee von Berlin in den Köpfen, die in solchen Momenten am Leben ist. Diese Idee, die macht, dass alle hierherziehen, getrieben von leichtem Größenwahn und vager Sehnsucht nach Großstadt. Und ein leichter Anflug von Frühlingsnacht legt sich über alles. Ella sagt, sie hätte das Gefühl, als hätten sie sich schonmal getroffen und sie zitiert einen Film von Wong Kar-Wei:

'We rub shoulders with each other every day. We may not know each other, but we may become good friends some day!'

Maria Pacurariu
Das Foto zeigt einen Kneipentisch, auf dem ein Aschenbecher und ein Bierglas auf einer blau-weiß Tischdecke. Außerdem sind die Arme und Oberkörper von zwei Personen zu sehen, deren Köpfe abgeschnitten sind.

Die Wirtin ist genau auf die richtige Art ruppig, am Nebentisch brüllen die Männer „tausendmal berührt, tausendmal verführt!“ und Hannah holt das Geld für das Gemälde am Bankautomaten um die Ecke und die vier stoßen an, sehen einander wieder an und in dieser Nacht können sie wieder träumen, in dieser Nacht gibt es sie wieder – die geteilte Idee von Berlin in ihren Köpfen.

Und morgen wird ein Bild an einer neuen Wand hängen in einer Küche und einer wird ein Künstler sein, und mindestens zwei werden immer noch lieben, und einer wird bis sieben in Clubs tanzen und vielleicht das ganze Geld wieder ausgeben, für eine wird morgen vielleicht niemand mehr Gedichte lesen, aber jetzt in diesem Moment können sie träumen und wenn sie hinaustreten auf die Straße, Danziger Ecke Greifswalder, werden sie das Glitzern sehen können zwischen den Asphaltsteinen.

Maria Pacurariu
Das Foto zeigt ein Stück Straße mit Asphaltsteinen, zwischen denen Glassplitter liegen.

Infos zu Kunst/Raum:

Kunst von: Женя Сидора / @wgorodenedorogo
Raum:  Die Zentrale