28.06.2022

erste seiten

Juni 2022 - Paula van Well

Marla möchte das auch können, sich jetzt einfach an den Zaun stellen, den Hosenstall öffnen, rtsch. Im Stehen pinkeln möchte Marla, ganz genau so wie O. und Dany das jetzt können, die just in diesem Moment die Bei- und Fahrertür zuschmettern, ein Erschüttern der rechten Ohrmuschel, KNALL, dann eins der linken, KNALL, und Marla dazwischen. Die Hände rechts und links auf den Rücksitzen, aufrecht, stiert sie den beiden nach. Beinahe zeitgleich, dieses KNA-KNALL, leicht versetzt, so knapp an der Synchronität gescheitert, dass Marla fast lacht. Aber Marla lacht nicht, Marla möchte das auch können, im Stehen pinkeln, ganz genau wie Dany und ganz genau wie O., die jetzt mit langen Beinen über die Fahrlinie schwenken, deren dazugehörige Füße vom Asphalt gen Steißbein sprengen wie Gummibälle. Ähnlich wie diese verlieren Danny und O. beim Aufheben und Absetzen der Füße nur einen lachhaften, einen völlig zu vernachlässigenden Teil ihrer kinetischen Energie an innere Verformungs- und Reibungsvorgänge und sind daher nach vier kurzen Einsatzmomenten der Kniegelenke bereits am Zaun gegenüber angekommen. Versenken die Schuhspitzen im Gras und entziehen die Hände Marlas Blick, der nun auf zwei ausufernden Rücken ruht. Sie kann förmlich sehen, wie die Last einer vollen Blase Dany und O., wie sie ihnen von den Schultern trieft. Marlas Finger tippeln auf dem abgewetzten Ledersitz entlang, abprallende Wassertropfen, lauter werdend, anschwellend, tosend, plopp. Sie möchte das auch können, aber sie gehört nicht dazu.
Gleichstellung ist Mithalten-Können, hätte sie damals vielleicht gedacht. Aber über solche Dinge denkt sie nicht nach. Für solche Dinge hat sie gar keine Worte. Über solche Dinge redet hier niemand. Wo soll sie diese Worte, irgendwelche Worte also finden, wo, bitteschön.
Die nächsten zwanzig Minuten wird Marla in O.‘s Schulter pieksen, alle halbe Minute, dann irgendwann drängeln und klopfen, bis Danny das Lenkrad süffisant herumrudert und Marla auf das triefende Raststätten-Klo entlässt. Ich wollt‘ eh eine rauchen. Sie gehört nicht dazu, das ist augenscheinlich, das können alle sehen. Jedoch allzu schlimm ist das nicht, denn Marla schlägt sich gut im Mithalten. Besser als die anderen jedenfalls, von denen Dany und O. immer sagen, dass sie ganz tierisch nerven. Von denen hält man sich besser fern, es sei denn, man braucht sie für was.
Es beginnt jetzt eine Zeit: Blicke verändern sich.

Gleichstellung ist selbst das Auto fahren, das darüber entscheidet, wo wann gepinkelt wird. Das hätte Marla damals vielleicht gedacht, zwei Jahre später, hinterm Steuer einer quietschenden Kiste, für die sie sehr sehr viele Speisen an sehr sehr viele Münder verteilt und die Fakten verfälscht hat – selbstverständlich! sei sie rechtlich schon alt genug, so etwas wie Lohnarbeit zu leisten. Manchmal gehört sie jetzt sogar dazu, ihr Gehalt verdient sie schließlich auch selbst, da hält sie mit. Hauptsache sie hält sich fern von den anderen, von denen sollte sie sowieso gar nichts brauchen. Gleichstellung ist selbst das Auto fahren.

Fünf Jahre später steht Marla auf der Flughafenstraße und hält zwei Bier in der Hand, schaut in den Himmel, der keinerlei Flugzeuge trägt. Für was ist also ein Flughafen ohne Flugzeuge ein Hafen. Sie hält zwei Bier in der Hand, eines ist ihres und das Sterni für Seda. Vielleicht ist sie sogar ein Teil einer Gruppe, vielleicht das Element eines Teilstücks, so wie sie dort steht.
kommst du mit?, fragt jemand und Marla sagt klar. Dass sie bloß noch kurz wartet - schwenkt bedeutungsschwer Flaschen.
hab dir ein bier geholt, sagt Marla, als Seda zwischen Beinen, Autos, Nachtfühlern hervor pirscht, wo bistn gewesen?
– na, um die ecke bloß.
Seda erleichtert Marla um das Sterni.
hast dich also einfach zwischen die autos gehockt?, fragt Marla und bemüht sich. Die Stimme stolpert trotzdem ein bisschen.
gehockt?, Seda lacht, wie anstrengend. schiebst die hüfte bloß bisschen vor, dann klappt das auch im stehen. Sie dreht sich um, schlenkert den Kopf, na komm!
Aber Marla steht bloß unbeholfen mit Marla auf der Straße und weiß nicht, was sie mit ihr anstellen soll. Seda weiß das, die zieht sie einfach mit.
Sie laufen die Straßenlaternen entlang zu den Brücken. Da kann man tief schauen und die Beine der Schwerkraft übergeben. Hier, bitte schön. Sie tun dann ein Baumeln. Später wird Marla Seda fragen, wie sie das gemeint hat, vorhin, mit der Hüfte nach vorne. Seda wird ihr dann zeigen, senkrecht über dem Fluss unter verhangenen Sternen und gedünsteter Luft, wie sie das gemeint hat, mit der Hüfte nach vorne. Dass es nur auf die Beckenhaltung ankommt und die Zielsetzung. Dass uns das niemand beibringt, weil wir uns zu verhalten haben. Dass wir das auch lassen können, das Verhalten.
Am Morgen im Bett fragt sich Marla, wen eigentlich dieses Wir meint, von dem Seda oft spricht. Und dass sie sich gar nicht mehr fern hält und dass sich das, wie seltsam, wirklich sehr gut anfühlt.

Gleichstellung ist die Aufhebung von Binarität, das denkt Marla tatsächlich irgendwann, doch das dauert noch ein paar Seiten.

Foto: Friedemann Röse

Foto: Friedemann Röse