14.01.2021

erde

Januar 2021

vorm einschlafen wickle ich meine hände um die kalten zehen. es werden nur die hände kalt, die zehen wärmen sich nicht auf. ich weiß nicht warum, aber ich denke an den erdball, auf dem ich zusammengerollt liege. der tod verliert an bedeutung, je mehr man ihn abstrahieren muss. auf einem bildschirm im dunkeln muss ich abstrahieren, dass da im sarg mein toter großvater liegt. ich muss mir vorstellen können, dass der mensch, dessen leibspeise schokoladenkuchen war, der so viele sprachen konnte, wie ich eissorten kenne, da in der holzkiste liegt, und dann muss ich aufpassen, dass mein herz nicht plötzlich in die tastatur rutscht. ich muss still kaddisch sagen, dann laut. ich muss das vermögen haben, mir meinen toten großvater vorzustellen, sonst wäre er in meinem kopf noch am leben, würde leise die new york times lesen und meine zehen nachzählen, als hätte er noch nie einen kinderfuß gesehen. das geräusch von einem herz, das in die tastatur fällt, wollte ich nicht kennen. es klingt zärtlich und scheppernd, es bleibt etwas übrig in meiner brust, das mich piekst, wenn ich kurz vergesse, was gerade passiert ist.
ein paar steine in einer mülltüte, gesammelt, um sie irgendwann auf sein grab legen zu können, am tag, an dem er starb, sind das, was es mir am anschaulichsten macht, den toten körper, ein grab, eine einsamkeit.

ich rufe viele verschiedene freundinnen an und alle sind traurig. niemand mag aufstehen. alle träumen gruselig. man hat nicht wirklich was zu reden. es ist januar, und niemand mag von anfängen sprechen, von besseren dingen. auch ich traue mich nicht. mein vorsatz wird es, zu lernen, majonäse zu mögen, weil ich gern wissen würde, was ich verpasse. einmal taucht meine 93-jährige großmutter auf meinem zoom-bildschirm auf und ich würde sie gern fragen, wie es ihr geht, aber sie hat gerade die liebe ihres lebens verloren. also zünde ich eine kerze an und begehe verrat, an wem, weiß ich nicht. das herz kommt nicht aus der tastatur hervor. plötzlich schreiben die leute satzzeichen, wenn sie mit mir kommunizieren. saubere punkte hinter kondolenzen. weil das leben auch mit einem punkt endet. es endet nie mit einem ausrufezeichen. manchmal endet es mit einem doppelpunkt, aber dieses leben war genug gelebt, es gab nichts, das noch hätte passieren müssen, es gibt einen punkt und dann ist schluss.

auch wir zwei haben gerade nichts zu reden. du streichst mir übers haar, wenn ich am fenster stehe, und machst mir einen fencheltee. unter meiner schweren bettdecke taumeln die worte herum, die ich am tag vergeblich suche. in meine sprache schleicht sich graue wand über den schornsteinen. wenn die sonne doch mal scheint, verfluche ich sie. durch sie sieht man den ganzen staub auf den lampen und den lungen, man muss innehalten und durchatmen und daran glauben, dass es wieder anders wird, ohne anhaltspunkte außer der sonne selbst, die einen daran erinnert, dass man die jahreszeiten überschätzt.