31.03.2023

Die Theorie

März 2023

Den Frühling verbrachte ich im Haus meiner Eltern. Ich verließ das Grundstück selten und saß oft im hinteren Teil des großen Gartens am kahlen Apfelbaum, unter dem sich die Erdoberfläche steil abwärts in Richtung der angrenzenden Maisfelder krümmte. Auf einer Lufphotographie von 1778, die ich in einer Schublade fand, konnte man schematisch unser Gartenhaus und die sich darüber wölbenden Nachtwolken erkennen, daneben den gefrorenen Teich und einen großen Walnussbaum, der in seiner Gesamtheit die Idee einer Form andeutete. Die Szenerie wirkte wie in Natrium Licht getaucht. Die Muster hatten sich über eine längere Zeit in das amorphe Plastik gefräßt und dabei Spuren elektrostatischer Kavitationen hinterlassen, die das dunkle Zimmer aus dem ich das Gelände eingehend studierte periodisch aufleuchten ließ. Unten im Wohnzimmer gingen die Tulpen auf.

Der Großteil des Fotos ist schwarz. Am unteren Rand des Bildes sind einige wenige Lichtpunkte zu sehen, vor allem am rechten unteren Rand. Von der linken Seite des Bildes ragt eine gerade helle Linie in das Bild hinein, die kurz nach der Mitte des Bildes steil nach rechts oben abbiegt. Circa einen halben Zentimeter rechts von der nach oben gehenden hellen Linie geht eine weitere kurze Linie steil nach links oben.
(c) Wikimedia Commons - US Air Force, Testflug des Advanced maneuverable reentry vehicle (1980)

An Ostern saß ich in den Wiesen am Steilhang unterhalb des Klosters St Michael. Mit meinen Wangenknochen knackte ich Walnüsse auf und warf die Schalen achtlos auf das feuchte Gras. Die Stadt lag in totaler Regungslosigkeit. Die Gestalten auf dem dunklen Square waren einzeln erfassbar. Ihre Bewegungsmuster zogen sich in Scherwinkeln über identische Bodenformationen. Eine Frau schöpfte mit ihren bloßen Händen Wasser aus einem Winterbrunnen, führte sie zu ihrem Gesicht und trank. Zwei Männer nippten hellen Wein aus Plastikbechern. Die Figuren bildeten ein Ensemble. Ihre Hände bewegten sich parallel. Die Bewohner dieser Stadt waren stetig. Verfiel eines der blutigen Jesusdenkmäler, die besonders im Berggebiet jede Straßenecke säumten, wurde es Stein für Stein wieder nachgebaut. In der Stadt, darauf war man besonders stolz, befand sich das einzige erhaltene Papstgrab nördlich der Alpen. Auf dem Weg zurück durch die Innenstadt waren die leeren Plätze durch weißes Laternenlicht in der Horizontalebene erhellt. Unterhalb der gläsernen Pflastersteine sah ich wie die Bürger die letzten Barren Silber hämmerten und formten.