16.05.2023

Die Orte

Mai 2023

Oben lag das Kleistgrab leicht verschattet unter seltsam deformierten Akazienbäumen, unten am Steg trocknete ein Komoran seine Flügel in der Sonne. Ich machte mir Notizen über einen Lageplan des Wannseeufers von 1879 auf dem die Grabstätte und die Stelle, an der Kleist im Novembergrauen des 21. Novembers 1811 erst seiner Freundin Henriette Vogel in die Brust und daraufhin sich selbst in den Mund schoss, eingezeichnet war. Ich stand auf der Hintertreppe zu einem Garten und beobachtete Basaltprismen, die an kahlen Steinoberflächen hafteten und eine im klaren Wasser treibende Braunglasflasche. Ich wedelte mit meinen frisch eingecremten Händen durch den lauen Frühlingsabend, eine Bewegung, die ich mir den ganzen Tag über für diesen exakten Zeitpunkt aufgehoben hatte. Am Waldrand sang ein Obachloser Madrigale und wir verpassten die vorletzte Fähre zurück zum Festland.

Die hydraulischen Pumpen hoben den Bus einige wenige Zentimeter vertikal in die Höhe bevor sich die Türen öffneten und die Körper auf den lichtlosen Platz vor dem Ufer strömten, dessen abschüssige Wiesen mit wuchernden Fliederbüschen übersät waren. Am Rain verblutete sanft ein Wild. Wir fuhren zum SBahnhof Wannsee und nahmen von dort aus den Regio zurück in die Stadt.

Er hatte seinen Blick lange auf die Schrebergärten außerhalb des Zugfensters geheftet, die nach und nach zu einer einzigen breiten Linie in der Dunkelheit verschmolzen; ich saß stumm daneben und dachte an Orte, an denen ich nie gewesen war, dich ich nie mit eigenen Augen gesehen hatte, den Keleti Bahnhof in Budapest zum Beispiel oder die Stadtpfarrkirche in Sibiu, ehemals Herrmannstadt, deren Vorplatz von der einzigen gekrümmten Straße des Ortes gerahmt wurde und an deren Ausläufern die erhellten Arkaden Lichtbögen in die Wolkenfetzen brachen. Der Friedhof ein paar Gassen weiter lag hinter einem bis in die oberste Etage vollständig verwüsteten Rohbau über dem sich verlassene Baukräne wie tote Saurier müde in Richtung Erde beugten. Ich lief zwischen den Gräbern umher, die mit ausgebleichten Kunststoffgestecken geschmückt waren und wollte Bilder machen, traute mich aber nicht meine Kamera auszupacken. Auf dem Weg zurück in das Hotel beobachtete ich einen Jungen, der im zentral gelegenen Stadtpark versuchte mit zwei Teelichtern einen ausgetrockneten Kastanienbaum in Brand zu stecken.

Wikimedia Commons / “ Florists' review (microform)”

Wikimedia Commons / “ Florists' review (microform)”

Die Orte verschwammen. An den Eingängen zur U-Bahn bildeten sich lange Schlangen. Das Abendlicht durchschmolz die Mauer eines Terrassen Plateaus. Ich trug ein weißes Hemd. Der Ohrring blitzte im weißen Schimmer der Halogenlampen periodisch auf. In der hintersten Ecke des Innenhofs stand ein Walnussbaum. Wir standen eine Weile im Türrahmen einer spärlich mobilierten Altbauwohnung, die Handballen vertikal ineinander verkeilt und blickten auf den Reigen von weißen Roben, die sich zu Miley Cyrus “Party in the USA” durch den konkaven Raum bewegten. Später auf dem Hochbett wenige Zentimeter unterhalb der Zimmerdecke rotierten die Farbschauer eines SEK Einsatzkommandos bläulich durch die Vorhänge und über unsere Körper.