06.06.2023

Die Körper

Mai 2023

Am Ortsausgang von Fiesole betrachtete ich eine Weile die ausgeblichenen Schwarz-Weiß Fotographien an den Fensterfronten einer dämmrigen Wäscherei, die das Dorf vor ungefähr 100 Jahren in einem Zustand der vollkommenen Verwüstung zeigten. Aus der nahegelegen Tiefebene, gleich hinter Olmo, erhoben sich graue Rauchsäulen über langgestreckte Olivenhaine und dürre Kirchentürme aus Sandsteine, die scheinbar wahllos über die sich sanft in das Landesinnere aufstaffelnde Hügelketten verteilt worden waren.

Ich war am Abend zuvor in einer vollkommenen Dunkelheit mit der Nachtbuslinie 7 an der Piazza Mino angekommen, nur die purpurnen Neonleuchten eines Kiosks schimmerten über den nassen, stellenweise von der extremen Augusthitze aufgeplatzten Asphalt; die alte Frau mit der gewölbten beigen Hornbrille und der um ihre dünnen Handgelenke gewickelten Plastiktüte voller ausgeblichenen Zeitschriften saß immer noch im Bus auf ihrem Platz und flüsterte eindringlich in meine Richtung; ihr Kopf war gegen die pollenverkrusteten Fensterscheiben gelehnt, ihre Augen geschlossen und der grüne Papierkarton aus dem sie die ganze vierzigminütige Fahrt von der Statzione Nationale bis hoch nach Fiesole über fettarme Milch getrunken hatte lehnte immer noch verknittert gegen ihre Fußknöchel.

Es war kalt und regnete auf den Platz, ich trug nur ein dünnes Sommerhemd und fror bald; über den Dächern erhellte ein Wetterleuchten den lila-grauen Himmel in immer kürzeren Abständen. Die wenigen Personen, die noch an Hauseingängen unter einer von einer flackernden Plastikflamme ungleichmäßig illuminierten Madonnenstatue in einem Halbkreis standen wanden sich bald von mir ab und verschwanden in ihren Wohnungen.

Am nächsten Morgen sah ich beim Schwimmen auf dem Grund des Hotelpools einen Toten treiben. Ich überlegte kurz an der Rezeption Bescheid zu geben, wollte aber nicht unangenehm auffallen; die Präsenz der Leiche, deren Haut sich schon in feinen Partikel von den Knochen löste und das gesamte Becken wie ein schmutziger Pollenschleier überzog, schien niemanden wirklich zu stören.

Ich nahm den Bus nach La Querce, wo ich mir das Relief von Pisanello anschauen wollte, das dieser in einem Anflug geistiger Umnachtung um das Jahr 1634 mit zuvor in Wasser eingesumpften Farbpigmenten auf den rauen Kalkputz der Außenwand der Cattedrale di San Romolo aufgetragen hatte und eine frühchristliche Interpretation der Vision des heiligen Eustachius darstellen sollte. Dichte Gewitterwolken drückten sich über die Bergketten Richtung Norden; die Luft war nass und flammte unerträglich. Die kleine steinerne Gasse, die zur Bergkirche herraufführte war übersät mit verendeten Salamandern. Ich rastete auf einer verschatteten Bank unterhalb zweier riesigen Zypressen.

 

Ich dachte an die Bank am sommerlichten Fasanenplatz in Berlin auf der wir vor kurzem noch zusammen gesessen hatten; in der Nahaufnahme seine Hand auf meinem Knie; in der Totalen durch die Baumkronen, durch eine kahle Luftschneiße, zwei Körper, untrennbar ineinander verschlungen; auf dem Weg von der Bismarckstraße zurück zu meiner Wohnung, sein fliederfarbenes Hemd, Familien zwischen Kinderwägen auf den Wiesen, Hand in Hand vorbei an Wildrosen auf dem Gelände links des Westhafens, leuchtender Frühsommer, eine Prozession, die von einem Fluss unterbrochen wurde, meine Haut die sich eng um seine Finger- und Handknochen spannte.