16.06.2023

Die Felder

Juni 2023

Von der Terasse aus beobachtete ich Konstellationen von Körpern auf dem Feld. Unter der tiefstehenden fränkischen Abendsonne räumten wir Sträucher in den Schuppen, unsere Wege führten in weichen Ellipsen um die dicht ineinader verwachsen, blühenden Apfelbäumen herum; an einer Stelle synchronisierten sich seine Schritte für ein paar Sekunden mit langsam durch eine Lichtschneise gleitenden Mikropollen, eine seltsam harte, unwirkliche Gleichzeitigkeit, dann bog er an der dunkelroten Blutpflaume um die Ecke und ich sah nur noch seinen silbernen Ohrring durch struppige Stauden funkeln.


Am nächsten Tag fuhr ich zu ihm mit dem Auto meiner Mutter über die wellige Landstraße Richtung Westen, die Sonne bohrte fleckige Hitzekammern in die Talbiegungen und aus dem Fenster sah ich verlassene Tankstellen und Metzgereien; in den Dörfern braune Lamellen die traurig schief in staubigen Ladenfronten hingen, leere Marktplätze und an jedem Ortsausgang noch bevor endlose Kornfelder jegliche vage Vorstellung eines Horizonts verschluckten ein mittelgroßer Schlachtbetrieb. Es hebten und senkten sich Bewusstseinsräume, ähnlich beweglicher Sichtachsen, die bei einer nächtlichen Taxifahrt durch eine fremde Stadt Kerben in die Häuserfronten schlugen, ein Zustand konstanter Euphorie und extremer Sehnsucht und direkt als ich hinter dem Mühlweiher in das nächstegelegene Dorf einfuhr erfasste mich ein derart abruptes Schwindelgefühl, dass ich das Auto auf dem leeren Parkplatz eines Gasthauses parkte und für einige Stunden schlief.

Wikimedia Commons / Egyptian Cornfield on the Frazier Ranch, Kern County, California
Das Bild zeigt ein schwarz-weiß Foto eines Feldes unter grauem Himmel. Am hinteren Rand des Feldes sind Bäume und zwei kleine weiße Häuser zu sehen. Der Großteil des Bildes ist gefüllt von leicht gespenstischen grauen Getreideähren.

Am Gutshof betrachteten wir eine Weile stumm die Wasserpflanzen knapp unterhalb der klaren Seeoberfläche und betraten dann die kleine Kapelle neben dem Herrenhaus. Der graubeige Putz krümelte in feinen Partikeln auf ein in einem nussbraunen Rahmen eingefasstes Portrait von Ronald Reagan, der mit einer irgendwie kornäpfligen Häufung der Gesichtsmuskeln zufrieden in die Kamera grinste; auf der ersten Holzbankreihe lagen Zetteln mit Namen von Landkreisabgeordneten und Bürgermeistern die hier wohl vor rund zwanzig Jahren der feierlichen Enthüllung des Granit-Tabernakel beigewohnt haben mussten auf der nun in der kühlblauen, dunstigen Luft ein ausgestopfter Fuchs stand, der dümmlich in Richtung Kirchenschiff glotzte.

 

In der Dämmerung auf dem Parkplatz unter der Linde hatte ich einen Traum. Die eingeschlagenen hinteren Fensterscheiben meines Autos rahmten einen Sommerhimmel, der in der Hitze keinerlei Abstufungen mehr umschloss, sondern eine massive milchige Wand projizierte. Er erzählte mir davon, dass er an die rauen Gold Print Fotos gedacht hatte, die meine Großmutter im Herbst ‘89 in einem weiß braun gesprenkelten Kleid mit sorgfältig hochgesteckten Haaren auf einer Landstraße irgendwo in Japan zeigten; sie aß ein Brot aus einer Plastiktüte und schaute uns ernst entgegen. Ich dachte an die Vorgeschichte des Sichtbaren, an die Gleichzeitigkeit von Erinnerung und Verlangen, die Konstellationen von zwei Körpern auf einer Bank an den Steilhängen des Michelberges; er zu mir, ich zu ihm. Die Rosenstöcke in der Stadt rahmten sein Gesicht, der Blick der Kamera abgewandt. Eine Heimfahrt im Fieber, mit der Fähre über den Fluss. Schmutzige Strände. Der feine Widerhall der Züge unten in der Ebene, von unzähligen Flächen gebrochen.