28.04.2023

Der Raum

April 2023

Wikimedia Commons/ Screenshot from Teorema directed by Pier Paolo Pasolini

Wikimedia Commons/ Screenshot from Teorema directed by Pier Paolo Pasolini

In dem hell beleuchteten Garten führte die Frau mit ihrem linken Bein sanfte Kickboxbewegungen aus. Sie trug eine beige Base Cap und stand alleine etwas abseits unter den rosa Lampions neben der verglasten Außenveranda, die bis zur Decke mit Zimmerpflanzen gefüllt war. Durch den Maschendrahtzaun drangen einzelne Stimmenfetzen einer wahllos über mehrere Bierbänke verteilten Menschengruppe. Hinter ihnen schimmerten Rückstände lichtsensitiven Silberhalogenids in der Dunkelheit aus den massiven Betonwänden heraus. Ein verfrühtes Blühen hatte die Stadt erschüttert, stille Explosionen floraler Farben, die sich über Hänge und Lauben ausdehnten, ein Zustand wie er sich nur nach Phasen längerer, extremer Regenzeiten ereignete. Die Augustabende kamen zu früh. Die Langzeitwirkung von Licht auf dünnes Papier war aus dem All sichtbar. In den Außenbezirken breitete sich Gewalt und Panik aus. Auf dem Weg von der Bibliothek zu meiner Wohnung lief ich an verlassenen Trockenspeichern vorbei, am alten Stadion, an dem Park, aus dem schrille Fanfaren des jagenden Landadels tönten, am gelblich beleuchteten Fußgängerübergang hinter der Kirche. Zuhause nahm ich meine Wohnung zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder als Raum wahr. Auf dem Bett lagen ein lilanes T-Shirt, ein Flaschenöffner, ein Feuerzeug, Bleistifte und eine ungeöffnete Rotweinflasche. Auf dem braunen Esstisch standen eine Packung Haferflocken, ein Strauß welker Trockenblumen, Chevroux Ziegenfrischkäse, ein analoger Braun Reisewecker und ein großformatiges Fotobuch mit Stills und Szenen aus den Filmen von Pasolini. Das Buch war in Sequenzen von Bewegungen, Objekten, Orte und Blickachsen untergegliedert: Verführung, Familie, Nacktheit, Fetisch, Essen, Marktplatz, Tod. Auf der aufgeschlagenen Seite sah man ein schwarz weißes Bild, auf dem ein junger Mann wie tot in einer Landschaft lag; die Glieder sternförmig über den staubigen Boden gespreizt, das markante Kinn in Richtung des oberen rechten Bildrands gereckt, die Augen geschlossen. Im Hintergrund zuckten schattenlose Spiegelungen unterhalb der grauen Wolkendecke.

Später recherchierte ich, dass der Ort mit großer Wahrscheinlichkeit die Lagune von Grado in der Nähe des Deltas des Isonzo im Friaul war, an der Grenze zu Jugoslawien und mit Blick auf den Golf von Triest, wo Pasolini um das Jahr 1970 zwei Sommer verbrachte. Ich stand lange über den Tisch gebeugt und dachte an die dichten Maulbeerbäume der montenigrinischen Küste und an die Tulpenstengel, die gerade in meinem Küchenabfluss verschimmelten. Auf dem Boden lag dünner Staub. Der schwarze Bildschirm meines Laptops war übersät mit getrockneten Haut-, Schweiß- und Speichelflecken, die sich wie Flechten auf der dunkelglatten Oberfläche ausbreiteten und ein Netz virtuos gesprenkelter Frequenzen bildeten. Ich schaute aus dem Fenster. Die in sich geschlossenen Bewegungen der Baumkronen im Innehof schienen auf eine nahe gelegene, größere Wassermasse hinzudeuten. Dann fiel mir ein, dass die Stadt gar nicht am Meer lag. Über den Dächern atmeten die Sonnensegel gleichmäßig ein und aus.