14.02.2018

Der Buchladen

Februar 2019

 

Ich bin auf dem Weg nach Hause, zu Fuß. Die S-Bahn ist ausgefallen wegen Schnee. Die U-Bahn hatte einen Unfall. Wenn man sich anstrengt, kann man ein paar Schneeflocken auf den Mülleimern erkennen. Um mich herum sind viele andere Leute unterwegs. Einer beschwert sich am Telefon, dass er in Tempelhof wohnt. Wir sind im Prenzlauer Berg. Die Person am anderen Ende der Leitung bietet nicht an, ihm ein Taxi zu rufen. Neben mir öffnet sich die Tür von etwas, das auf den ersten Blick aussieht wie eine Studentenkneipe mit ausgemusterten Möbeln. Gleichzeitig hat es diese vollverglaste Front; wie man sie von Fitnessstudios kennt, die ihre Mitglieder zusätzlich zu den Beiträgen auch noch der Öffentlichkeit zur Schau stellen. Es ist ein Buchladen. In der Tür hängt ein schönes Schild mit der Aufschrift „geöffnet“. Niemand hat sie geöffnet. Es ist Sonntag.

Drinnen bewegen sich einige Menschen; ich kann sie nur schemenhaft erkennen. Eine ältere Dame hält krampfhaft ihre Tasche fest, dabei haben alle hier ziemlich viel Platz zwischen sich. Ich fasse die Türklinke an; es kommt ein leichter Schlag. Ich betrete den Laden, in dem ganz hinten, fast versteckt, ein paar Bücherregale stehen. Es ist keine Kasse zu sehen und niemand scheint so richtig hierherzugehören. Dafür ist es warm. Ich frage die ältere Dame, ob sie weiß, wo ich einen Mitarbeiter finden kann. Ich suche ein ganz bestimmtes Buch in der zweitletzten Auflage. Sie antwortet nicht. Alle anderen Kunden wenden sich ab, wenn ich näherkomme. Niemand von ihnen hält ein Buch in der Hand. Ich gehe zu den Regalen.

Die Bücher sind unsortiert, oder ich kann zumindest keine Ordnung erkennen. Die Regale wirken klapprig und ich traue mich kaum, ein Buch herauszunehmen; ich habe Angst, irgend-eine Balance zu stören. Eins ist fast aus dem Regal gefallen, es ist klein und leicht. Gedruckt 1777 und auf Latein. Hinter mir räuspert sich jemand. Schön, zu sehen, wenn jemand die Bü-cher richtig behandelt. Er sieht mittelalt aus, die Haare eine Mischung aus blond und braun, und hat eine unaufgeregte Stimme. Seine Gesichtszüge sind weder rund noch kantig, sondern irgendwie…gerade. Während ich ihn ansehe, vergesse ich die Details schon wieder und muss sie ein zweites Mal registrieren. Ist das Ihr Geschäft? Es war mir bisher noch gar nicht aufge-fallen. Wie lange gibt es Sie denn schon? Jeder Satz wird gefolgt von einem unangenehmen Schweigen; erst der letzte sorgt für eine Reaktion. Seit fünf Jahren, sagt er. Er klingt selbst nicht überzeugt. Kann ich Ihnen helfen? Ich beschreibe das Buch, das ich suche. Er schreibt sich nichts auf. Wir könnten da möglicherweise ein Exemplar im Lager haben. Kommen Sie morgen vorbei.

Am nächsten Tag fahren die S-Bahnen wieder. Als ich die Ladentür öffne, empfängt er mich mit dem Buch in der Hand. Es ist die Auflage, die ich brauche. Als ich es aufschlage, kommt mir ein leicht muffiger Geruch entgegen, wie aus einem Antiquariat. Die Schrift sieht normal aus, aber in meinem Augenwinkel scheint sie sich zu verändern. Keine Drucktype. Das Buch hat eigentlich genau das richtige Gewicht für einen Sprachkurs, aber es fühlt sich in meinen Händen zu leicht an. Es müsste gebunden sein, und mit schwererem Papier. Ich erwähne das dem Ladenbesitzer gegenüber und er nickt leicht, dann sagt er: Keine Sorge, das hört spätes-tens nach einem Tag auf. Zum Abschluss deutet er kurz in eine Lücke im Bücherregal. Zwei Augen schauen daraus hervor. Das ist Kim, meine Katze. Lässt sich gerne streicheln. Ich trete einen Schritt näher und strecke vorsichtig meine Hand aus. Kim ist ein Huhn. Sie lässt sich klaglos streicheln und ich verabschiede mich schnell aus dem Laden, in dem sich sonst nie-mand mehr aufhält. Hinter mir dreht der Inhaber das Schild in der Tür zu „geschlossen“ um. Es ist elf Uhr vormittags.

Er hat recht gehabt, kurz darauf verhält sich das Buch normal. In den nächsten Wochen fragt mich meine Sprachlehrerin mehrmals, warum ich bei meinen Hausaufgaben immer wieder ins Lateinische wechsele. Ich sage ihr, dass ich parallel versuche, noch ein paar andere Sprachen zu lernen und dabei immer mal wieder etwas durcheinanderkomme. Aber ich lerne kein La-tein, und überhaupt keine romanische Sprache. Meine Lehrerin geht nach einer Weile dazu über, mir die Fehler nicht mehr anzustreichen; stattdessen schreibt sie nur noch „seufz“ darun-ter. Ich besuche den Buchladen immer mal wieder und bestelle was ich brauche. Jedes Buch, ohne Ausnahme, trifft am nächsten Tag ein. Der Inhaber scheint viele Kims zu haben, denn sie sieht jedes Mal anders aus. Einmal ist sie eine Eidechse. Eine Katze ist nie dabei. Irgendwann gehe ich trotzdem dazu über, sie als solche anzusprechen und frage, wie sie sich beim Mäusefangen macht. Bei der einen Gelegenheit, als der Inhaber mir eine Maus als Kim vor-stellt, lasse ich die Frage aus. Sie erscheint mir taktlos.

Abgesehen von dem Sprachbuch benimmt sich keins meiner Bücher seltsam. Deshalb emp-fehle ich den Laden an ein paar meiner Freunde. Die ersten kommen nach wenigen Tagen zu mir und erzählen, dass sie ihn nicht finden können. Er liegt etwas versteckt in einer Seiten-straße, vielleicht haben sie nicht richtig geschaut. Sie streiten das ab, wollen aber nicht, dass ich mit ihnen gemeinsam hingehe. Einer glaubt, ich will ihn verarschen. Ich war seit mehreren Monaten nicht mehr da; aber nun steht wieder ein Besuch an. Ich nehme mir vor, danach für meine orientierungslosen Mitstudenten eine Karte zu zeichnen und stecke Katzenfutter für Kim ein. Egal, welche von ihnen da ist – das mag sie immer.

Als ich ankomme, ist kein Buchladen da. Ich überprüfe die Straße doppelt und dreifach, gehe sie mehrmals ab. Ein Fitnessstudio schmiegt sich eng an eine Studentenbar, die noch zu hat. Ein paar Wohnhäuser, dann ist die Straße zu Ende. Ich trete näher an das Studio, dessen Glas-front mich an etwas anderes erinnert…in der Tür hängt ein Schild, es sieht alt und aufwendig gemacht aus. Wie für einen Buchladen. Darauf steht „geschlossen“.