12.07.2024

DER ABSOLUTE UNORT DES INTERNETS: WG-GESUCHT

Juli 2024

Wenn es einen Ort gibt, an dem ich nie wieder Zeit verbringen möchte, dann ist das WG-Gesucht in Berlin. Der absolute Un-Ort des Internets.
 
Als ich nach dem Abi beschloss nach Berlin zu ziehen, dachte ich, dass das ja nicht so schwer sein würde mit der Wohnungssuche. Ich zog nach Berlin, wie alle nach Berlin ziehen: Mit einer vagen Idee von Großstadt und schlecht verborgenen Größenwahn.
Dann schrieb ich hundert Leuten auf WG-Gesucht – die ganz normalen drei Sätze - und bekam keine einzige Antwort.
 
Nachdem ich einige Tage von Selbstzweifeln geplagt auf mein leeres WG-Gesucht-Postfach gestarrt hatte, überarbeitete ich meine drei Sätze.
 
Den Preisregler verschob ich dabei immer ein bisschen weiter nach oben. Anfangs hatte ich naiverweise nämlich geglaubt, dass der im Bafög-Höchstsatz dafür berechneten Anteil von damals 360 Euro tatsächlich irgendwie mit dem Preis eines WG-Zimmers korrelieren würde.
 
Ich beschrieb mich als den interessantesten, nettesten und ordentlichsten Menschen der Welt. Ich begann sehr detailliert auf die Anzeigen einzugehen. Wahlweise hatte ich jetzt unbedingt Lust Mitglied des DnD-Spieleabends der WG zu werden (nicht mal gelogen, ich wollte schon immer mal Pen&Paper ausprobieren), wollte unbedingt morgens und abends zusammen meditieren (ein bisschen gelogen) oder hatte unbedingt Lust für die ganze WG zu backen (sehr gelogen).
 
Außerdem schickte ich jetzt zu meiner Anschreibe immer gleich noch ein Foto von mir mit. Und ein zweites von einem Bananenbrot, das ich dann natürlich für meine künftigen Mitbewohner*innen backen würde. (Lüge)
 
Es antworteten jetzt immerhin drei Leute:
Ein Typ, der schrieb, dass er sich eine WG mit einem Vertrauensverhältnis wünschte. (Vertrauensverhältnis bedeutete für ihn so viel wie, dass wir nackt rumlaufen und die Türen beim Duschen nicht schließen sollten.)
Ein Typ, der sich darüber aufregte, dass ich geschrieben hatte, dass ich vor allem vegan kochte und dass er sich so ein Zusammenleben nicht vorstellen konnte. Und eine ältere Dame, die mich mochte, weil ich geschrieben hatte, dass mir die Umwelt wichtig war.
(Spoiler: Sie suchte vor allem jemanden, der wenig duschte, um Wasserkosten zu sparen.)
 
Ich schrieb der Frau zurück. Außerdem rief ich mit meiner besten verzweifelten Stimme beim Studierendenwerk an. Das Studium würde in zwei Wochen beginnen und ich hätte nicht einmal eine Couch bei jemandem, auf der ich schlafen konnte. (Das stimmte ja auch.)
 
Die verzweifelte Nummer wirkte oder ich hatte einfach Glück. In einem Wohnheim in Zehlendorf gab es einen Block, der eigentlich renoviert werden sollte. Nun verschoben sich die Umbauarbeiten und man könne doch noch einziehen. Geheimtipp sozusagen.
 
Ich fuhr also nach Berlin. Es war mein drittes Mal in der Hauptstadt. Das erste mal war ich im Alter von zehn Jahren mit meinen Eltern dagewesen, hatte die Hälfte der Zeit im Tiergarten und die andere mit Durchfall auf einem Hotelklo verbracht. Das andere mal hatte ich bei dem Freund eines Freundes ein Wochenende übernachtet und über cool aussehende Leute, die schlaue Dinge in Bars mit Konzepten (was auch immer) sagten, gestaunt.
 
Dann also dieser Geheimtipp mit dem Wohnheim. Ich stieg Südkreuz aus und landete in Busberlin, irgendwo außerhalb des Rings. Nur wusste ich damals noch nichtmal, dass der Ring überhaupt ein Ding war.
 
Das Wohnheim bestand aus mehreren Betonkästen. Den, in dem es die Wohnungen geben sollte, erkannte ich schon von weitem an der langen Schlange davor. Geheimtipp also – aha. Vor mir warteten bestimmt zwanzig andere junge Leute. Die meisten wohl internationale Studierende. Mehrsprachige Verwirrung schwirrte durch die Luft.
 
Dann kreuzte eine mittelalte blonde Frau auf. Sie grüßte uns kurz und schloss die Tür des Gebäudes auf. Der Ablauf: Sie würde immer fünf von uns mit nach oben nehmen, um uns die Zimmer zu zeigen. Die erste Fünfergruppe drängte sich nach vorn und mit ihr nach oben. Unter den internationalen Studierenden machte sich Panik breit als die Frau sich recht unhöflich weigerte Informationen im Englischen zu wiederholen. „Selbst schuld wenn ihr kein Deutsch könnt.“ Während wir warteten übersetzten ich und einige andere ein paar der wenigen Informationen, die wir hatten, ins Englische. Dann war ich selbst dran: mit einem indischen Mädchen und drei weiteren Leuten wurde ich ins Gebäude gelassen. Das Treppenhaus hatte einen merkwürdigen Eigengeruch. Die Türen grün, Wände kahl. Aber es war eine Wohnung, es waren Zimmer in Berlin. Jedes etwa 8qm groß zwar, dafür aber sogar mit Bafög bezahlbar. In jeder Wohnung befanden sich etwa sechs Zimmer, eine Küche, ein Bad und eine zusätzliche Toilette. Ein Metallbett mit Matratze, Schreibtisch, Stuhl, Regal und Kleiderschrank. Es sah zwar etwas nach Krankenhaus aus, aber mehr Gedanken schaffte ich mir gar nicht zu machen.
 
Dann mussten wir schon wieder raus. Wir bekamen Verträge in die Hände gedrückt, die wir am besten gleich unterschreiben sollten. Im Treppenhaus facetimete ein Junge auf Koreanisch mit seinen Eltern. Es klang Verzweiflung mit. Verzweiflung, die ich gut nachvollziehen konnte. Einen Mietvertrag unterschreiben? Und das jetzt gleich? Das klang nach einer Erwachsenenaufgabe. Ich verspürte den Drang es ihm gleichzutun. Mama, bitte komm mich abholen!
 
Trotzdem war da auch Erleichterung und Euphorie, die in der Luft lag. Die anderen schienen mit dem Berliner Wohnungsmarkt bis jetzt ähnliche – wenn nicht durch Mangel an Deutschkenntnissen oder deutscher Staatsbürgerschaft schlimmere – Erfahrungen gemacht zu haben als ich.
 
Also unterschrieben sie. Also unterschrieb auch ich. Am zweiten Oktober zog ich ein.
 
Ich lebte sechs Monate im Wohnheim. Zusammengefasst war es eine eher gruselige Erfahrung. Es lag da, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen (die Hasen und Füchse zu sehen gehörte aber eher zu den Highlights).             Meine Mitbewohnenden schienen ihre Zimmer ständig weiterzuvermieten. So, dass man dann vor dem Bad dann plötzlich einem völlig neuen Menschen begegnete, der sich als Untermieter der Untermieterin des Untermieters vorstellte.
 
Ein anderes Problem war der winzige Kühlschrank. Den teilten wir uns nämlich zu sechst (oder zu wievielt auch immer genau wir wirklich in dieser Wohnung lebte. Zu sechst waren wir höchstens auf dem Papier). Dieser Kühlschrank hatte kein Gefrierfach, dafür aber einen Regler, mit dem man seine Temperatur verstellen konnte. Je nachdem, wer zuletzt mit diesem Regler hantiert hatte, mussten die anderen dann lernen mit aufgetauten Tiefkühlpommes oder schockgefrosteter Milch umgehen lernen.
 
„Es wird schon“, sagte eine Kommilitonin als wir uns in einer meiner ersten Berlinwochen in einer Bar im Prenzlauer Berg trafen. (zu der ich vom Wohnheim aus mindestens eineinhalb Stunden brauchte) Ich lachte verzweifelt, aber in meinem Fall behielt sie halbwegs Recht.
 
Heute sitze ich nicht weit von dieser Bar in einem schönen, hellen Zimmer. Vom Balkon aus kann ich den Fernsehturm sehen. Ich bin dankbar wie ich hier so sitze. Einer guten Freundin, die mir dieses Zimmer vermittelt hat  und all den anderen Leuten, die mich immer ermutigt haben, wenn ich an dem Zustand des Wohnungsmarkts zu verzweifeln drohte. (Danke Miu, danke Issa, danke Stef)Trotzdem: Berlin leisten kann ich mir jetzt vor allem durch ein Stipendium. Das sollte nicht so sein. Trotzdem: Ich kenne Leute, die aufgrund des Wohnungsmarkts das Studium abbrechen mussten, jetzt in anderen Städten studieren. Ich kenne Leute, die in Kellern wohnen. Den ganzen Bachelor lang immer zur Zwischenmiete, die alle paar Monate umziehen müssen. Leute, die sich neben Studium und Bafög überarbeiten, um ein Zimmer zu bezahlen. Leute die jeden Morgen von jwd (janz weit draußen) reinfahren müssen.
 
Allgemein mitgenommen habe ich: Ein paar lustige Wohnheim- und WG-Gesucht-Geschichten und empirische Daten dazu welche Lebensmittel wie schnell einfrieren können. (Einmal konnten Michelle und ich einen Mandelmilchkarton aufschneiden, nachdem wieder jemand den Kühlschrankregler ganz runtergedreht hatte und erhielten ein Stück Mandeleis – Beweisbild angehängt).
 
Ansonsten viel Wut über eine Wohnungspolitik, die soziale Selektion unter Studierenden vornimmt. Eine Wohnungspolitik, die es Studierenden, aber sicher anderen Bevölkerungsgruppen noch viel mehr, fast unmöglich macht, das Grundbedürfnis nach einem Zuhause, zu befriedigen.
Und Dankbarkeit darüber und die Bestätigung dessen, dass es viele liebe Menschen gibt, die Räume schaffen, die auf einen aufpassen. Die einem ein Zimmer geben – ein Zimmer für sich allein.
 
Aber: Nicht alle haben das Glück Zweiteres zu erfahren. Und ich glaube auch nicht, dass es so sein sollte, dass man sich nur auf Zweiteres verlassen muss.
 
Ob ich wieder nach Berlin ziehen würde, wenn ich von dem Wohnungsmarkt gewusst hätte? Ich weiß es nicht. Ich sitze hier, schaue zum Fernsehturm, denke an all meine Berliner Freund*innen und die schönen Momente hier und bin ehrlich gesagt sehr froh, dass ich mit neunzehn keine Ahnung hatte und ziemlich viel Glück.