03.03.2020

Crumbling

März 2020

als kind hatte ich eine mathenachhilfelehrerin, die mit uns im gleichen wohnhaus in kreuzberg wohnte. mein papa hat sie und ihren mann manchmal zum essen eingeladen und bei ihr gab es immer walnüsse und tee und die stimmung war manchmal sehr traurig. einmal hat sie mich umarmt und geweint, obwohl ich bei allem, was wir gemacht haben, immer geträumt habe und mathe gehasst habe. mein vater hat immer wieder betont, dass unsere freundschaft etwas besonderes sein und ich habe nie verstanden, warum, bis mir ihr name wieder begegnet, irgendwo im internet, es ist ein persischer. mein jüdisch-amerikanischer vater hat sich in seinen zwanzig jahren im gleichen haus in deutschland am engsten befreundet mit seinen iranischen nachbarn, er hat ihnen die mesusa an der tür gezeigt, die seine mutter ihm aufgezwängt hat, sie haben seiner tochter die tür geöffnet. mir wird im blauen licht meines computers, tage nach dem anschlag von hanau, etwas klar.

 

ich bin hingefallen und das quecksilber in mir hat sich nun verteilt und ist giftig. man sollte mich nun erstmal nicht küssen.

 

manche sachen werden einem erst jahre später etwas klarer. ich laufe an der warschauerstraße vorbei. ich habe hier mal mit einem typen rumgemacht, irgendwo sollte ein open air sein, sein kumpel war an meiner freundin interessiert. wir sind zum rummachen unter die ubahnbrücke gegangen. immer wieder hatte er seine hand in seine unterhose geschoben, ich habe meine hand immer wieder weggezogen, irgendwann, beim letzten mal reinschieben, waren meine fingerspitzen nass. ich dachte damals, hinterher, ich hätte mich nicht getraut, weil ich nicht wusste, wie das geht. vor zwei wochen, auf dem weg zu einer freundin, ist mir eingefallen, dass ich dachte, ich hätte mich nicht getraut, dabei hatte ich einfach keine lust.

 

in mir wurde asbest gefunden und man muss mich leider abreißen. einen presslufthammer braucht man dafür. ich bin aber eigentlich zu müde, um abgerissen zu werden.

 

einmal habe ich meine großmutter gefragt, wann sie von den konzentrationslagern erfahren hat und sie hat gesagt, das weiß sie nicht, vielleicht mit dreißig. oma wohnt in bielefeld, ihr türkiser teppich ist die farbe von kindheit und auf dem boden fernsehen und jemand, der mir den rücken streichelt, bis ich schlafe, weiche wangen und holzbrettchen, die fürs frühstück schon abends rausgelegt werden, saubere gerüche und dicke daunendecken, wenn man das fenster aufreißt, kommt kühle luft herein, während man unter daunen schläft. oma sagt am telefon, sie würde so gern als hitler das rosa kaninchen im kino schauen, aber es will niemand mit, und opa hört nicht mehr gut genug, also geht sie morgen alleine. ich erzähle, dass ich das auch manchmal mache, und wir beide sind kurz still und froh, dass uns das allein-sein verbinden kann, auch am telefon. die andere großmutter ist grandma und ist in chicago, sie hat sehr viel früher von den konzentrationslagern erfahren müssen und hat grandpa in einer drehtür kennengelernt. bei ihr roch es anders, wir kamen oft sehr müde an und ich hatte eine schaukel im garten, auf der auch häufig mein papa schaukelte, zum frühstück gab es lachs und obstsalat und pfannkuchen, manchmal auch waffeln, jedenfalls kein graubrot und sicher keinen schinken. grandma war sehr klein und kaufte mir kleider von tommy hilfiger, in denen ich zurück nach kreuzberg geschickt wurde, sie führte mich zum tee in hotels und ich bekam grilled cheese und pfefferminze-schokoladeneis. es gab zwei kühlschränke und eine kühltruhe und der kühlschrank war immer voll früher hat sie mit oma telefoniert, die beiden großmütter, oma hat den englischkurs besucht und kam zur bat mizwa, zu der nur grandpa angeflogen kam, grandma wurde kurz vorher krank und diese beiden frauen, die scheinbar sehr wenig verbindet, waren sehr enttäuscht.

 

in mir ist ein wasserschaden entstanden, es tropft schon aus dem kleinen zeh. der klempner muss kommen, die schultern zucken und ein trocknungsgerät in mir installieren.