12.03.2025

Cruelty & Devotion / Grausamkeit und Fürsorge (Teil 2)

März 2025

–One of the things I love about Christensen's alfabet so much is that it collapses the scales we use to make sense of the world: time, space, meaning, hierarchies, whatever. Through organizing the random nouns she collects in alphabetical order, things, which are not normally considered together, are put next to each other, on the same level as each other, like shit and sunshine. Shit is raised to the level of the sun and the sun is lowered to the level of shit. The weirdest and most surprising relations can emerge.
–Solar Anus.
I think Christensen liked Bataille too.

Aus den tausend Videos, die Ezekiel für seinen neuen Film zusammengesammelt hat, hat er Hunderte Screenshots in Diptychon gepaart, die Diptychon auf die Größe von Visitenkarten gedruckt und über den Teppich in seinem Zimmer verteilt. Die letzten Tage verbrachte er auf dem Fußboden. Er ordnete die Videos in verschiedene Reihenfolgen, eine Strategie unter vielen auf der Suche nach seinem Film. Umgeben von den Diptychon sitzt Ezekiel auch heute auf dem Boden und schreibt Solar Anus von George Bataille mit der Hand auf die leeren Seiten ab, die er aus seinem Tagebuch gerissen und mit einem Band zu einem Heft zusammengebunden hat. Ein Geschenk, viel mehr ein act of devotion, für seinen Freund zum Geburtstag.

An umbrella, a sexagenarian, a seminarian, the smell of rotten eggs, the hollow eyes of judges are the roots that nourish love.

George Bataille: Solar Anus.

*

Wir holen unseren Pfandbeutel hervor, sammeln auf dem Weg zum Supermarkt auch noch ein paar Pfandflaschen ein und kriegen damit genug zusammen für unser vorgezogenes Weihnachtsessen: Die Flasche Rotwein bezahlen wir, bei dem Braten tun wir nur so, als würden wir ihn an der Selbstbedienungskasse scannen, Kartoffeln und Erbsen haben wir noch da, das Glas voll Schokoladenpudding macht eine Beule in meine Manteltasche.

Wir fühlen uns beide unwohl, wenn es um unsere Familien geht. Einmal wurde Ezekiel in der Nacht vor seinem Flug nach Sydney im Badezimmer ohnmächtig. Den Kopf schlug er sich über den Fliesen zu einer Platzwunde auf, zu Fuß liefen wir in die Notaufnahme, weil ihm im schaukelnden Taxi zu übel wurde, woraufhin er seinen Flug verpasste. Einmal wurden auch meine Bauchkrämpfe so stark, dass ich am Tag, bevor ich meine Familie besuchen wollte, in einer Bäckerei auf der Hermannstraße, unweit meiner damaligen Wohnung, in Ohnmacht fiel und mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gefahren wurde, drei Tage dort verbrachte. Die wenigen Male, die ich mich dazu durchringen konnte, tatsächlich bei ihnen anzukommen, kehrte ich mit einem Missmut zurück, den ich auf die Welt projizierte. Drei Jahre lang waren wir einander unsere eigene Familie, dieses Jahr werden wir beide unser Weihnachten mit Familien feiern, die nicht unsere eigenen sind. Ezekiel wird nach Sydney fliegen, um Zeit mit ihr zu verbringen und ich werde, da sich mein Vater von einer Operation erholt, meinen Eltern einen kurzen Besuch abstatten, bevor ich nach Frankreich weiterfahre, um Jibé zu sehen. Beide haben wir unser letztes Geld für Flug und Zug ausgegeben, unseren Überziehungskredit dafür bis aufs Höchste ausgereizt. Wir werden es an unsere Reiseziele schaffen, angekommen, müssen wir mal sehen.

Wir essen bei Kerzenscheinund, überlegen, wie es sich wohl anfühlen wird, Weihnachten zu Gast in noch unbekannten Familien zu sein.

Ich frage mich, wie gut sie ihn schon kennt, ob ihr eigentlich bewusst ist, wen sie zu Weihnachten zu sich nach Hause eingeladen hat? Weiß sie schon, dass Ezekiel wie der Gast in Pasolinis Film Teorema ist? Zu Besuch in dem Haus einer großbürgerlichen Industriefamilie liest der Gast Gedichte von Arthur Rimbaud und schläft mit allen Familienmitgliedern: dem Sohn, der Mutter, der Tochter, dem Vater, der Haushätlerin. Nachdem die Familienmitglieder mit dem Gast geschlafen haben, sind alle auf lebensverändernde Weise inspiriert: Die Haushälterin schwebt als Heilige über den Dächern ihrer Heimat, die Tochter verliert den Verstand und landet im Irrenhaus und der Sohn wird Künstler abstrakter Malerei. Die Mutter wird zu einer Perversen, die mit fremden jungen Männern schläft und der Vater übergibt seine Fabrik den Arbeitern, legt seine Kleidung am Hauptbahnhof ab und geht nackt in die Wüste. Falls sie es noch nicht weiß, es könnte auch erst eine Ahnung sein, zusammen mit einer auf falschen Annahmen ruhenden Gewissheit, dass er so aber doch nicht wirklich sein könnte, falls sie es also nur noch nicht glauben wollte, wie würde sie wohl reagieren? Und falls sie tatsächlich nichts vermutet, was ist es dann, was sie an ihm so anziehend findet?

*

Auf der Hausparty zu Silvester liegen bestimmt fünf Dutzend Austern auf einem silbernen Tablet in einer wenig beleuchteten Sitzecke auf der Terrasse bereit, die niemanden zu interessieren scheinen. Ich nehme mir, wenn keiner schaut, eine Auster, dann zwei, dann drei, aber nicht mehr, die Austern werden doch bestimmt gleich offiziell serviert, zum Jahreswechsel vielleicht. Einmal äschert Jibé seine Zigarette über ihnen ab, sieht nicht, dass sich die Austern noch in ihren Schalen befinden. Ich ermahne ihn streng, nehme die geäscherten Austern herunter, überprüfe, dass alle anderen noch schön sind, dann nehme ich mir noch eine. Bis ich in der Küche eine weitere Champagnerflasche öffne, aus dem Augenwinkel sehe, wie die Gastgeberin alle Austern in den Müll wirft. Ich möchte Halt rufen und sie ermahnen, wie ich Jibé ermahnt habe, aber ich spreche kein Französisch und die Gastgeberin kein Englisch, auch kein Deutsch. Stattdessen sage ich so etwas wie No no no. Gemeinsam versuchen wir die oben aufliegenden Austern zu retten, aber es ist schon zu spät, die Austern schon hinüber.

Im Morgengrauen habe ich einen Weinkrampf, nachdem ich Ezekiels Antwort auf meinen Neujahrsgruß lese. Es ist alles liebevoll, aber ich realisiere, dass es mir lieber ist, mich zu streiten, wie wir es taten, nachdem ich meine Eltern besucht und etwas Dunkles mitzurückgebracht habe als mich so wie hier, bloß anzuschweigen. Um mir noch mehr zu zusetzten, stelle ich mir vor, wie Ezekiel sich jetzt mit ihr so streitet. Der Weinkrampf dauert Stunden an und hört erst auf, nachdem ich mich mit Jibé gestritten habe. Nur ist es nicht dasselbe, nichts Fürsorgliches, ich bin mir sicher, dass er einfach nur endlich einschlafen will. Dann schlafe ich wütend darüber, auch ein.

Später sagt Jibé, dass er neidisch war, weil er sich wünscht, er könnte auch so heftig weinen wie ich.

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Just got home.
Plants are still alive.
When will you get back?
22:55 

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Film Still aus Teorema.
(c) Wikimedia Commons/ Screenshot from Teorema directed by Pier Paolo Pasolini