25.07.2023

Albany

Juli 2023

(für Seunghun)

Wikimedia Commons / C. Sipprell: Potted ivy plant and some glass items.
Das Bild ist ein schwarz-weiß Foto. In die rechte Seite des Bildes ragt eine Kommode, auf der ein Glasornament und eine Topfpflanze stehen. Die Äste der Topfpflanze ragen in verschiedene Richtungen, unter anderem bis zum linken Rand des Fotos.

Die Insekten hafteten nachts auf der Außenseite des doppelverglasten Fensters. Der schwache Schein meiner Nachtischlampe beleuchtete die warmbraunen, wabenartigen Verzweigungen der Arterien auf der Kehrseite ihrer Körper; hinter ihnen vor der massiven dunklen Baumwand reflektierte etwas in den Büschen, der abblendende Strahl eines Autolichts oder das Zucken der Blitze, die sich mit fortschreitender Stunde immer dichter über den Bergkamm der schmalen Hügelkette schoben, die den Ort südlich gegen das Landesinnere abriegelten.

Ich bewohnte das Zimmer mit dem hohen Eckfenster, das zur Straße hinaus zeigte. Die Sicht war bis auf einen kleinen, meist blassgrau getönten Streifen Himmel von einem dichten Kiefernhain abgeriegelt, durch den nur manchmal morgens Sonnenstrahlen durch das dichte Geäst drangen und orangefarbene Waben an die Innenwand warfen.

Der Ort erschien mir mit jedem Tag immer weniger real. Eines Vormittags unternahm ich den Weg in das Innere der nahen Kleinstadt, bog an der Dillingham Avenue links ab und lief am Straßenrand über blankpolierte, quadratische Marmorplatten, die in das feuchte Gras eingelassen waren oder um die herum das feuchte Gras über Jahrtausende organisch gewachsen war. Die Häuser mit den weißen Holzveranden standen weit voneinander entfernt, schwarze SUVs weideten wie riesige glänzende Käfer klobig auf grünem Kunstrasen, über mir fächerten sich Wolkenstrukturen auf und setzten sich von einem ziemlich disparat bläulich gefärbten Himmel ab. An der Williams Street erhob sich ein Buntspecht träge von den Hochspannungsleitungen und flog in Richtung des grauen, konisch zugespitzen Kirchturms der Ortsmitte. Ich hatte in meinem einmonatigen Aufenthalt keinen einzigen Menschen gesehen. Meine Wahrnehmung fragmentierte. Ich schickte einen Brief ab, aus dem Post Office mit den gestreckten Giebeln. Ich vermisste ihn und den alten Kontinent.

Nahe der Jefferson Street senkte ich meinen Körper so lange ab bis mein linkes Knie den rau geschuppten Asphalt berührte, bis sich das Granulat der Straße sanft durch die oberste Schicht meiner Haut bohrte. Durch eine Heckenschneise beobachtete ich aus dieser Position mehrere Minuten lang eine in pastellfarbene Kleider gehüllte Menschengruppe, die sich zu einer Art Gartenparty auf einem gleichmäßig gemähten Rasenstück versammelt hatte. Die Bergspitzen lagen im Nebel, die mächtige Trauerweide an der Kreuzung vor der einzigen Tankstelle der Umgebung wirkte durch die nur bis zum Brustkorb reichende Bestrahlung der Straßenlaterne wie entzwei geschnitten, die obere Knospenhäfte des Baums verschwand geisterhaft in der Nacht.

Als ich nach Hause kam stand die Verandatür weit offen, die Notenpulte waren umgeworfen und lagen kreuz und quer auf dem Teppich des Living Rooms verteilt, die Glastür zur Küche war zerbrochen. Im obersten Flur brannte Licht. Ich machte kehrt und fuhr mit dem Auto eine halbe Stunde flussabwärts in die Industriestadt Albany, wo ich mir ein Hotelzimmer im Alpenrose Inn nahm. Ich kehrte zwei Wochen lang nicht in das Haus zurück.

Ich stellte mir vor: Am letzten Abend vor meiner Abreise fiel feiner Regen auf meine schwarze Neoprenjacke. Wir liefen am Westhafen über die Brücke, die sich wie eine Rampe schräg abwärts in Richtung der weit verzweigten Schienennetze krümmte. Wir aßen gegrillte Dorade in einem Fischrestaurant. Meinen Kopf tief auf seine Schulterknochen gebettet passierte ich einen gerahmten Durchgang aus Bauzäunen, Brückenpfeilern und einem vertrockneten Schlehen Ensemble und dachte unvermittelt diesen einzig wahren Satz, der alles wesentliche fasste: „Ich hatte noch nie in meinem Leben jemanden so geliebt wie ihn.“ Dann konnte ich meine Augen kaum mehr öffnen. Ein bis dahin unbekanntes Wehen, ein Leuchten über unseren Körpern, ein ovales Treiben der Zeit. Ich prägte mir noch seine Gesten genau ein, wie er auf einen blättrigen Kirchturm unter einem Autobahnhzubringer deutete, das sanfte Streichen seiner dunkelschwarzen Strähnen gesichtsauswärts, das Sich-Weiten seiner dichten Lippen bei einem Lächeln, das Fixieren von Konsonanten und Vokalen auf brüchigem Papier ein paar Tage vorher in meiner Wohnung. Ich notierte mir all das in meinem Notizbuch. Am Ufersaum bildeten sich Lichtkanäle, die noch bis Anfang August wie totes Geäst auf dem tiefstehenden Wasser trieben.