29.01.2025
Acrylfarbe & Mikroplastik
Januar 2025
Ms Mund musste sich immer bewegen. Darauf hatte ich einen guten Blick, denn in unserem neuen Alltagstanz nahmen wir automatisch gegenüberliegende Plätze ein. Im Bus, im Café, im Bett. Ich hatte durch ihre Muskeln den Kiefer gelernt – dafür brauchte ich sie nur anschauen. Ihr Masseter war ruhelos am zermahlen.
Was möchtest Du so klein machen? hatte ich sie vor einer Woche gefragt. Irgendetwas schien gefangen, zu groß zum Herunterschlucken, zu wichtig zum Ausspucken, zu zäh zum Zerteilen. Noch vor zwei Monaten hatten ihre Zähne nicht ständig geknirscht. Da waren unsere ersten Dates gewesen. Augen glänzend, ihre Lippen dunkelrot, meine Pink, weit aufgerissen, um die Karaokeeinsätze nicht zu verpassen. Dann, um uns nicht zu verpassen. Magenta und Heiserkeit hatten uns am nächsten Morgen begrüßt. Jetzt hatte ich Angst aufzuwachen und pudrigen Schmelz in der Kuhle zwischen unseren Körpern zu finden.
Als Antwort hatte sie einen Kaugummi aus ihrer Jackentasche gezogen und mir hingehalten. Die Bewegung so routiniert, dass ich sie fast nicht gesehen hatte. Minze?
Ich nahm die Aluverpackung entgegen und faltete sie langsam auf. Schob den mehligen Streifen zwischen meine Zähne. Fühlte sich an wie eine Kassette, die man in den Rekorder steckte. Ich schaute M erwartungsvoll an, aber sie kaute nur und sagte nichts.
Die Zeit danach verbrachte ich in Spätis. Vor M war ich selten in der Situation gewesen, abends einen Mangel zu haben. An Trinken, Instant-Ramen, Snacks. Aber sie war spontaner und zerschlug meine ausgeklügelten Einkaufspläne. Wer einmal auf der anderen Seite der Kasse saß, wusste, wie viel Geld man sparen konnte. M hatte immer gekellnert. Nach drei Tagen hatte ich zehn unterschiedliche Geschmäcker gesammelt. Manche waren Farben, andere ohne Plastik. Ich legte sie auf Ms Küchentisch und meinen Nachttisch. Verteilte sie in ihrer Peripherie, ihrer Jacke und ihrem Bett.
Sie war nun viel bei ihren Projekten. Was genau sie waren, wusste ich nicht; aber ich konnte die Rückstände sehen. Die Farben riechen. M wirkte jetzt konserviert, chemisch. Ihre Hände voll mit Pinselstrichen, Sprenkeln, Schnitten. Ich stellte mir vor, wie die Farben in ihre Blutbahn übertraten und langsam Zellen ersetzten. Wie M in ein paar Wochen nicht mehr rot, sondern bunt-bräunlich Bluten würde. Ich versuchte mir, durch das Negativ, das sie bot, ein Bild von ihrem Malpapier zu machen. Für mehr als ein unscharfes Gewirr an Farben reichte meine Vorstellungskraft aber nicht aus.
Das pinke HubbaBubba ging zuerst zur Neige, gefolgt von Erdbeere und Watermelon.
Wir saßen wieder im Café als M den letzten Rest der Kaugummischlange ausrollte und in ihren Mund schob.
Tut Dir Dein Kiefer nicht langsam weh fragte ich. Weißt Du, so Zähneknirschen nachts haben viele Leute. Da kann man sich beim Zahnarzt diese Schienen machen lassen. Oder Botox in die Muskeln – also nach Absprache. Du kannst es aber auch ausspucken, weißt Du? Was auch immer es ist.
M zog ein Stück Kaugummi aus ihrem Mund heraus, die Fäden spannten sich, kämpften um Halt, hingen schlaff herab. Wirkten fast zu leicht für unseren Luftdruck. Sie rollte es zwischen den Fingern zu einer Kugel, kaute den Rest weiter.
Dann bezahlten wir und sie knetete das farblose Stück; hielt es warm. Vor dem Café drückte M den Kaugummi zwischen zwei Backsteine, wo er kleben blieb. Gegen die Vergessenheit murmelte sie und ging weiter.
Neben ihrer Zahnbürste lagen nun auch ihre bunten Socken bei mir. Jeden Morgen ließ sie einen weiteren Teil von sich zurück. Nachdem M gegangen war, begann meine Schatzsuche. Nur, dass mein Preis keine Truhe, sondern ein Stück der Karte war. Ich fand Haarknäule und Lieblingspullis, zerlesene Bücher und Tiefkühlpizza. Die Kaugummispuren gegen die Vergessenheit klebten zwischen den Backsteinen. Vor unseren Lieblingscafés und Spätis, an den Tramhaltestellen und Einkaufsläden. Pink, Erdbeere und Watermelon alle gleich farblos. Die Kuhle von Ms Daumen gleichermaßen in sie gedrückt. Es machte mir fast Spaß ihre Teile aufzusammeln, zu sortieren, zu katalogisieren. In ihnen nach M zu suchen.
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Dann lagen wir auf meinem Bett, das eigentlich zu klein war für zwei, aber ich schlief ruhig und M machte es nichts aus beim Herumwälzen gegen mich zu stoßen. Wir schauten an die Decke, das Rattern eines Sternenhimmelprojektors neben uns. M hatte ihn aufgeregt unter meine Nase gehalten, als sie heute mit Acrylfarbe überzogen bei mir ankam, uns dazu feierlich eine Tasse Kakao gekocht. Es war nachmittags und hätte genauso gut zwei Uhr morgens sein können. Ich schaute sie an; Ms Augen bewegten sich mit den Kreisen der Sterne.
Das ist irgendwie nicht das Gleiche sagte sie. Das ist einfach Plastik und Strom. Sie hob ihre Hand in die Luft. Ihre Finger wurden blau und Sterne folgten dessen Falten. M griff nach ihnen und fasste ins Leere.
„Hast Du schonmal überlegt, ob Du in ein paar Jahren noch hier sein wirst?“
M schaute während ihrer Frage weiter nach oben, ließ die Lichter zwischen ihren Händen tanzen.
Welches hier meinst Du?
„Alle“
Ich nahm mit ihr Blickkontakt auf.
„Alle.“
„Nicht so wirklich“, sagte ich, „ich leb eher so im Tag, keine großen Masterpläne, wenig Gedanken über die eigene Vergänglichkeit.“
„Du arbeitest doch im Krankenhaus.“
„Ja, da ist es schon Thema. Aber das schwingt eher so mit, ist nicht wirklich greifbar, bis es dann passiert – und das ist auch nicht so oft wie man denkt.“ Ich streckte meine Hand zu Ms Händen und tauchte mit ein, in die Illusion.
„Und was ist dann? Wenn ‚es‘ passiert?“
„Unterschiedlich. Manchmal traurig, manchmal erleichternd. Manchmal ein schöner Abschluss. Manchmal rüttelt es wach, jedenfalls für ein paar Wochen. Meistens ist es eine Mischung. Und dann geht das Leben weiter.“
Klingt normal.
Gehört dazu.
Meine Hände schwebten neben Ms in unserem portablen Universum, der Kakao dampfte auf dem Nachttisch.
Ich hatte in den letzten Tagen den Moment verpasst. Immer wieder hatte ich verpasst, M zu fragen. Nach ihren Kunstprojekten, ihren Kaugummis. Ihrer Schlaflosigkeit. Erst hatte ich mich nicht getraut, wir waren zu frisch und sie wirkte zu konzentriert. Dann waren ihre neuen Bahnen auch schon eingetrocknet und ich wollte nicht zu spät sein. Zeigen, dass ich hinterherrannte. Das barg das Risiko zu langsam zu sein.
Jetzt holte mich meine Spannung ein. Und ich wollte es ihr beweisen. Ich hatte aufgepasst, zusammengetragen.
„Verteilst Du Dich deshalb überall? Wegen Deiner eigenen Vergänglichkeit?“
Ich hatte mit etwas explosionsartigem gerechnet. Aber es tröpfelte nur leise aus ihrem Mund heraus.
Ich habe letztens gemerkt, dass ich sterben kann.
Ich nickte, versuchte ihr Raum in unserem Sternenhimmel zu schaffen. Meinen Stolz wegzuschieben.
„Ich habe letztens gemerkt, dass ich nicht unsterblich bin. Und wenn ich das jetzt so sage, klingt das ziemlich größenwahnsinnig, aber ich hatte das davor nicht wirklich realisiert. Manche Sachen weiß man und manche Sachen weiß man.“
„Und jetzt möchtest Du hier kleben bleiben? Zeigen, dass Du existierst?“
„Und am besten niemals damit aufhören.“
M strich mit ihren blauen Fingern über meine und hielt sie fest. Es schien kurz so, als wollte sie noch mehr sagen und dann war der Moment vorbei.
Kein Wunder, dass Du das nicht schlucken kannst, das ist zu viel.
Der Kakao war kalt geworden, aber wir tranken ihn trotzdem. Dann war M wieder weg, die Farbe auf ihrer Leinwand bereit für die nächste Lage. Den Himmel ließ sie bei mir stehen und ich legte ihn zu den einzelnen Socken und Lieblingspullis. Die Tiefkühlpizza hatte ich den Tag davor gegessen. Ich warf mich zurück auf das Bett und ließ den Moment nachwirken. Ms Kuhle lag noch neben mir und der Raum roch nach frisch gewaschenen Haaren und Farbe – der Projektor drehte sich in meinem Kopf weiter.
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Möchtest Du heute ins Atelier kommen?
Klar, aus irgendeinem besonderen Grund?
Ein paar Momente später stand ich unter den Bogengängen von Ms Universität. Sie streckte ihre Hand fragend nach meiner aus, zog mich dann über Marmorböden und an vollgestellten Räumen vorbei. Hinein in eine Parallelwelt. Die Menschen alle bunt oder auffällig farblos, aber immer mit Intention und dann war ich in Ms Ecke. Mein Bild von ihr verrückte sich kurz, wie es manchmal passierte, wenn man Leute in neuen Kontexten erfuhr. Sie bewegte sich anders durch diese Umgebung, mit mehr Ruhe. Als hätte die Hintergrundmusik gewechselt und ihr Lieblingslied angefangen zu spielen.
„Okay, das ist aber noch nicht fertig, okay?“
„Darf ich daran etwa nicht Deine ganzen künstlerischen Aspirationen und Fähigkeiten bemessen?“
„Doch, schon. Gerade zumindest so halb.“
M zeigte auf einen chaotischen Haufen Malkarton. Handgroß ausgeschnittene Vierecke waren aufeinandergehäuft und überdeckten sich gegenseitig. Ich hob das Oberste an und hielt es schräg zum Licht. Die Farben erinnerten mich an Ms Hände in den letzten Tagen, Pastell und sanft; ich konnte die einzelnen Pinselstriche verfolgen. Dann eine zweite Schicht – mehr Kontrast, härtere Kanten, schwarzer Fineliner. Das nächste Viereck war ähnlich, ich versuchte sie aneinanderzulegen, aber konnte keine gemeinsame Kante finden. M war still. Ich war still; griff vorsichtig ein Bild nach dem anderen, legte es auf dem wackelnden Holztisch aus. Bis jetzt hatte M mir nur sporadisch unscharfe Handyfotos von Projekten ihrer Grundlagenkurse gezeigt. Das hier wirkte anders. Wichtiger. Vorsichtig hielt ich die Bilder und arrangierte sie. Erst mit dem Versuch eine durchgehende Linie zu finden, dann aus Bauchgefühl. Ich trat einen Schritt zurück und ließ es auf mich wirken.
„Bist Du damit zufrieden?“ Ms Augen blieben auf der Kollage fixiert.
„Ich dachte erst das wäre ein Puzzle, aber hier gibt es kein richtig, oder?“
„Ne, der Berg von vorher hat genauso viel Daseinsberechtigung wie Dein Bild. Das sieht angenehm aus.“
„Hattest Du den Haufen gebaut?“
M nickte.
„Habe ich den Berg jetzt kaputt gemacht?“ Ich bekam kurz Sorge. „Ist das diese Art von Kunst, die ich nicht anfassen sollte?“
„Bloß nicht.“ M lachte auf. „Bitte fass meine Kunst an.“
Was waren Deine Gedanken dazu?
M erzählte mir daraufhin von Teilen und dem Zerteilen. Vom Ausbreiten und Einfangen. Vom Verteilen. Dann sollte ich mir eines der Bilder aussuchen, sie tat es mir gleich. M steckte mir einen Kaugummi zu – ist wichtig. Wir gingen, an die Pappe und uns gegenseitig geklammert, aus dem Gebäude. Ihr Bild war wütend, in rot und pastelligem orange, wenig blau zum Ausgleich, das schwarz auf eine Seite konzentriert, kantig. Es forderte heraus. Meines war grün und rosa, federnd, erinnerte mich an Ms nicht-hörbares Lieblingslied.
Wo fahren wir hin?
Such Du aus.
Ich drehte mich noch einmal zum Gebäude um, als wir zur nächsten Bahnstation spazierten, etwas stach in meine Magengrube. Da drinnen war es mir egal gewesen, dass wir uns nah waren; hier draußen wurde es mir bewusst. Ms Daumen fuhr langsam meinen Handrücken entlang und ich wollte sie festhalten. Fühlte mich beobachtet. M schien sich darum keine Sorgen zu machen, sie ging zielsicher weiter.
Kannst Du mich öfters einladen? Die Räume sind voll schön.
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M und ich standen vor der ausgehangenen S-Bahn-Karte. Zeig einfach irgendwo rauf. Mein Finger landete auf dem Plänterwald und eine Stunde später waren wir von Bäumen umgeben.
Es fühlte sich komisch an mit M durch das Gestrüpp zu stapfen. Auf einer Mission, so geheim, nicht mal ich wusste, was wir taten. Mich irritierte das manchmal, die Art wie M mit mir redete – oder eben nicht redete. In unseren ersten Wochen dachte ich, ich müsste sie verstehen. Wissen, worauf sie hinausmöchte; was kommt. Aber sie schien sich selbst wenig Gedanken im Vorhinein zu machen. Ließ Sachen erstmal geschehen. Ich war in diesen Momenten mit dabei und wir konnten später Sinn daraus machen. Aber das erwartete sie nicht.
Hast Du einen Baum gefunden?
Ich hab ganz schön viele Bäume gefunden.
Ja, aber der eine Baum, Du weißt, welcher es ist, wenn Du ihn siehst.
Was hältst Du von der Wand hier? Geht die auch?
Perfekt.
Wir kauten unsere Kaugummis vor einer eingefallenen Mauer. Dann spuckte M ihren aus, knetete kurz darauf herum. Drückte ihn an ihr wütendes Bild und ihr wütendes Bild an die Wand. Ich schaute es mir ab und klebte ihr nichthörbares Lieblingslied daneben.
Gegen die Vergessenheit? murmelte diesmal ich.
„GEGEN DIE SCHEISS VERGESSENHEIT!“
Ich lachte, aber M meinte es ernst.
Planst Du die jetzt überall in der Stadt zu verteilen? Was machst Du dann mit den Bildern? Was ist, wenn es regnet? Ich glaub, ich habe noch ein Laminiergerät zu Hause, wenn Du das möchtest, altes Geschenk von einem Freund, der hatte sich damals über meine Ordnung lustig gemacht.
M laminierte die Bilder nicht, aber verteilte sie weiter. Manchmal folgte ich ihr und je öfter ich auf ihren Missionen dabei war, desto mehr kam ich in ihrer Welt an. Wusste gar nicht, ob ich das wollte, hatte mich aber schon zu sehr zurechtgefunden, um es nun anders zu machen.
Sie tat alles dafür, um nicht abbaubar zu sein. Die Acrylfarbe in ihrer Blutbahn und das Mikroplastik der Kaugummis in ihren Zellen. Die Polymere würden ihre Überreste bleiben und in tausenden von Jahren noch schreien HIER BIN ICH.
Die Straßen hörten auf Straßen zu sein, der Himmel und die Zeit nur Beiprodukte. Bleiprodukte die schwer im Magen lagen bei Dunkelheit und Tageslicht zugleich. Ms Körper hatte sich über die Stadt gelegt und wir fuhren in ihre abgelegensten Orte, damit sie ihn erobern konnte. Ihre Unterschrift darauf hinterlassen. Ein paar Mal beobachteten wir, wie Menschen die Bilder abhingen und mitnahmen. Ms Augen bekamen dann einen Glanz. Ich verstand nicht, warum sie zu einem Ort werden wollte, aber ich sah ihren Hunger. Und dann erinnerte ich mich an das Stück Mauer im Plänterwald, das älter war als ihre tote Großmutter und immer noch existierte.
