19.11.2019

Graues Licht

von Sally Strauchmann gelesen am 19.11.2019

Ich blinzele gegen das graue Licht. Von mir abgewandt hebt und senkt sich dein Körper in gleichmäßigen Atemzügen. Ich schlage die Bettdecke zurück, ziehe einen deiner Pullover aus dem Schrank und schleiche mich auf Zehenspitzen hinaus. Die Tür fällt vorwurfsvoll ins Schloss. Wie befreit von einer unsichtbaren Last, puste ich warme Luft ins kalte Grau. Ich atme ein paar Mal mehr durch den Mund aus, weil es mir gefällt, wenn die warme Luft in der kalten verdunstet, weil es mir gefällt, wenn sich durch einfaches Ausatmen Probleme in Luft auflösen. Es ist noch nicht hell geworden. Der Tag wirkt wie eine Braut, der man den Schleier noch nicht abgenommen hat. Vielleicht wird es den ganzen Tag nicht hell werden. Morgens will es nicht Tag werden, doch nachmittags schon wieder Nacht, denn Novembernächte stehlen dem Tag die Stunden.

Ich setze einen Fuß vor den anderen, laufe mechanisch in eine Richtung, die ich mir rein zufällig ausgesucht habe. Meine Augen brennen vom Licht als ich den Blick hebe und in eine nebelverhangene weiße Kugel blinzele. Obwohl ich gestern nichts getrunken habe, bin ich verkatert. Mein Kopf dröhnt, als würde der Beat von gestern noch gegen die Schädeldecke hämmern. Mein Körper schmerzt, als hätte ich betrunken auf einem Seil geturnt.

Wir haben die halbe Nacht auf dem Balkon verbracht, in Decken gehüllt die Party verpasst, die eine Glasscheibe hinter uns, auch ohne uns stattfand. Im 6. Stock des Plattenbaus hatten wir darüber geredet, wie lange man sich nicht gesehen hätte, und schnell eine aufgepeppte Zusammenfassung der letzten Wochen zum Besten gegeben. Wir hatten über alte und neue Witze gelacht. Du hast mir deine Jacke geliehen und ich habe meine Decke mit dir geteilt. Und obwohl alles so wie immer war, musste ich die ganze Zeit daran denken, wie wahnsinnig erwachsen wir geworden waren.

Ich vergrabe die Hände tief in den Jackentaschen und beschleunige meinen Schritt in der Hoffnung, die Füße warmlaufen zu können. Die Kälte kriecht unter meine Hose und kühlt den Jeansstoff auf ihre Temperatur ab. Ich laufe an Berliner Prachtbauten vorbei, die heute weniger prächtig, aber umso einschüchternder wirken.

Gestern habe ich euch viel zu lange angestarrt und viel zu wenig gesagt. Ich überlegte die ganze Zeit, warum es sich anders anfühlte, mit euch hier draußen zu sitzen, überlegte ob ein Monat wirklich etwas ändern konnte. Wie schnell kann man Nähe verlieren? Wie schnell kann man eine oberflächliche Distanz aufbauen? Hatten wir uns verändert oder war lediglich die Situation neu? Haben wir schon so oft gelobt uns zu melden, als wir uns noch jeden Tag hätten sehen können?

Mittlerweile kühlt die Luft meinen Kopf von innen. Dass mit einem kühlen Kopf auch klare Gedanken kommen, kann ich allerdings nicht unterstreichen. Die versuchten immer noch ihrer Sinnlosigkeit Sinn zu geben.

Letzten Sommer hatten wir davon geträumt zu wachsen, über uns hinauszuwachsen, an unseren neuen Aufgaben zu wachsen, all die Möglichkeiten zu nutzen, die das Leben uns so bot. Letzten Sommer schien noch alles möglich, alles fühlte sich an nach lustigem Ausprobieren an, nach einem Hut den man anprobieren und bei Nichtgefallen wieder absetzen konnte. Gestern habe ich nicht gesehen, wie wir an unseren Aufgaben gewachsen waren, sondern wie erwachsen wir geworden sind. Unsere Witze waren politisch korrekt, unsere Weihnachtswünsche bescheiden, unsere Wochenenden entspannt, unsere neuen Freunde eher nette Bekannte. Ich saß da und habe vom Balkon aus in den Berliner Sternenhimmel geschaut, den man viel zu selten, anscheinend nur vom 6. Stock aus, sieht und mich daran erinnert, mit welch einer Leichtigkeit wir letztes Jahr alle beisammen saßen und die Mondfinsternis beobachteten während wir uns sicher waren auch die nächste zusammen beobachten zu können.

Irgendwie sind wir erwachsen geworden, vereinnahmt vom Alltag, der die Erfüllung unserer großen Träume sein soll. Wir sind gewachsen, stehen zu Heimweh und Beziehungssorgen, fantasieren nicht mehr wild drauf los, sondern überlegen, was sich gut auf dem Lebenslauf macht. Mit 20 kommen wir uns auf einmal furchtbar alt vor, wenn die 2 Jahre Jüngeren unsere Kneipen zu ihren Samstagabendtreffpunkten machen. Wir scheinen uns alle zu fragen, ob es das ist, von dem wir 12 lange Schuljahre die Erlösung erwartet hatten. Die, die noch nach der großen Liebe suchen, stellen fest, wie schwer es ist, sich zu verlieben. Und die, die schon einmal so verliebt waren, prüfen, ob man sich auch ohne rosa Brille mag. Wir fragen uns, was eine richtig gute Feier ist, was wir trinken sollen, um losgelöst tanzen zu können, denn nichts schmeckt wirklich gut. Spätestens am Morgen danach schmeckt es nicht mehr. Wir veranstalten keine Dramen mehr, wenn Freundschaften in die Brüche gehen, sondern reden höflich Smalltalk und sonst aneinander vorbei.

Gestern als wir auf dem Balkon saßen, haben wir langsame, rot blinkende Sternschnuppen gezählt und überlegt, wohin sie wohl fliegen würden. Da hat sich alles wie früher angefühlt, so als könnten wir eins der Flugzeuge vom Himmel holen und einfach einsteigen, so als wäre das möglich. Wie im Film.

Vielleicht bin ich auch die Einzige, die alles ein bisschen zu erwachsen sieht, die sich fragt, ob es das ist, was ich mir immer erträumt hatte und ob es mir gefällt. Vielleicht sind wir aber auch alle wir selbst geblieben und lassen den Erwachsenen raushängen, um unsere Unsicherheit zu kaschieren. Denn irgendwie ist alles nicht so ganz, wie wir uns das vorgestellt hatten. Was man sich in bunten Sommerfantasien ausgemalt hatte, sieht im grauen Licht eines Novembertages anders aus.

Mittlerweile habe ich wieder deine Haustür erreicht. Ich streife mir die kalten Schuhe von den Füßen und lege mich entgegen aller erwachsenen Vernunft wieder ins Bett, um noch ein bisschen zu träumen, bis der graue Schleier sich lichtet und den Tag freigibt.