20.05.2020

über gedanken und gedenken

Mai 2020

über gedanken und gedenken

in der weserstrasse sonnt sich ein haus. das daneben bekommt noch keine sonne ab. ob häuser sich auch um die sonne streiten, so wie die menschen tun? das daneben, stelle ich mir vor, schaut traurig, es ist 09:23, noch kühl, ich gehe croissants holen und gehe einen extrablock, ich stelle mir vor, das haus hätte gänsehaut so wie ich. wie gemein, ich darf mich einfach weiterbewegen. die nase zur sonne strecken. den ganzen winter konnte ich nur über sie schreiben. es war so dunkel, dass es nur die sonne gab. sie war die steifen finger wert.

wir halten es ganz gut miteinander aus: streiten so alle zwei wochen, meistens schlafen wir im laufe des tages miteinander, manchmal lautlos und manchmal heftig, selten, nachdem wir gestritten haben. ich vermisse einige meiner freundinnen so schmerzhaft, viel mehr, als wenn man nur in einer anderen stadt ist. ich vermisse ihre unersetzbar weichen körper, auf denen man sich einkuscheln kann, und vermisse, mich zu beschweren bei ihnen und am meisten vermisse ich vielleicht, mit ihnen zu kochen oder für sie, gemüse in eine pfanne zu schmeißen und mit sahne, honig und zitrone abzulöschen und erdbeeren zum nachtisch zu zuckern. am kino steht fortsetzung: folgt auf einem plakat. das kleine kino in der nansenstrasse, in dem ich erst einmal an einem kalten abend einen film mit meiner mutter über eine fotografin geschaut habe, serviert abends antipasti, ich sage mir seit jahren, ich werde mehr hingehen. was wenn das dann nicht mehr geht - hat das überhaupt eine auswirkung auf mein leben? würde ich es überhaupt merken? ich vermute, nein: es wird andere kinos geben.

so wie jeder nach katastrophen weiß, wo er war, als sie passierten, ich zum beispiel saß, als die türme einstürzten, und ich die bilder sah, auf dem gelben teppich am fraenkelufer.

jetzt weiß jeder, wo er zuletzt unter menschen war, bevor es passierte, weil die zeitspanne länger war. ich war zuletzt auf dem big thief-konzert. es war das erste konzert, das mein freund und ich gemeinsam besuchten, obwohl wir uns jetzt schon eine weile kennen. i’ll be your record player baby if you know what i mean, hauchte die sängerin ins mikro. am merchstand haben wir uns shirts gekauft und der bekiffte roadie sagte, es wäre sicher das letzte konzert der tour. i’ll be your record player baby if you know what i mean heißt auch meine playlist für ihn. seit wochen habe ich nichts mehr auf die playlist gemacht, ich fülle sie, wenn man getrennt ist und ich an diese liebe denke, aber wenn ich in der badewanne liegt und er auf der anderen seite der wand liegt und zeitung liest im bett, hören wir die gleiche musik und wissen welchen takt das herz grad geht, dann geht man höchstens noch rüber und sagt, ich liebe dich, in klaren worten, nicht so gehaucht, aber was man sagen will ist i’ll be your record player baby if you know what i mean.

scheinbar gibt es kein anderes thema mehr, obwohl man kaum noch drüber redet. ich ertappe mich an einem tag dabei, wie ich airbnb öffne. vor scham, vor mir selber, werde ich rot und schließe die seite schnell wieder. scheiß privileg. am ersten mai kreist ein hubschrauber überm haus und wir gießen die blumen und holen takeout.

am 27.01. haben wir stolpersteine geschrubbt im prenzlauer berg. zwei frauen kamen näher und wurden aufgeregt und wir auch, weil sie erzählten, sie seien genau für diese stolpersteine gekommen, die wir gerade in der fehrbelliner straße schrubben würden. wir wurden alle aufgeregt und konnten uns nicht merken, wie sie verwandt war, eine der beiden, mit georg wolff, dem wir gerade anonym und wütend gedachten. ihr großonkel, glauben wir. plötzlich nicht mehr anonym. sie ist eine junge wiener frau und ich konnte kaum sagen, ich bin auch jüdisch, wollt ihr zum schabbat ans fraenkelufer kommen, es ist warm und hell dort. wir starrten uns alle an, nickten, alle vier von uns hatten verstohlene tränen in den augen. plötzlich nicht mehr anonym, dieser mann, der in auschwitz gestorben war, als einziger von sechs brüdern hatte er nicht überlebt, erzählte sie, aber die anderen, sie konnten entkommen. ich konnte lange gar nichts dazu aufschreiben. auf hebräisch sagt man „baruch dayan emet“, gelobt sei der ewige richter, wenn jemand trauert. man mag niemanden loben und man kann es nur einander sagen.

danach habe ich alle zwanzig steine vor dem hauptgebäude der humboldt-uni geputzt und hyazinthen hingelegt und geheult. ein mann kam vorbei und sagte, er mache das auch in mainz, aber meine scheuermilch sei eine schlechte idee, man sollte metallreiniger nehmen. ich schaute ihn ungläubig an und dann sagte er, toll, dass sie das machen. ich kriege kopfschmerzen wenn ich an diesen tag denke, an dem die sonne schien und ich mit meiner alten chefin kaffee trank, scheuermilch und tränen im rucksack, aber in der verwaltung in der dorotheenstraße war alles normal.