31.03.2020

Würmer

März 2020

 

Vor der Germanistik-Zweigbibliothek würge ich absichtlich schlecht gelaunt ein belegtes Brötchen aus der Mensa runter. Der vegane Brotaufstrich schmeckt vertraut, die schlechte Laune auch. Wütend starre ich danach auf das hässliche Orange der Wände in der Bibliothek und denke mir statt einer Bachelorarbeit Vorwürfe an mich und andere Leute zusammen.

Ich stehe unter der Dusche und höre Sirenen durch das Rauschen des Wassers hindurch. Sobald ich es abstelle, um meinen etwas wintergrauen Körper einzuseifen, höre ich sie nicht mehr. Ein bisschen verrückt ist jeder, sage ich mir, stelle das Wasser wieder an, und höre den Sirenen zu. Im Halbschlaf höre ich das Klingeln der Tram auf der Kastanienallee und sage mir, dass es nicht echt ist. Ein bisschen verrückt ist jeder, manchmal bilde ich mir ein, ich bildete mir Sachen ein. Klänge sind gut zum Einbilden.

Ein Ohrwurm, Lana del Rey, wie sie singt you like your girls insane. Ein bisschen verrückt ist jede, weiß Lana, ich höre das und fühle mich insane. Ein Wortwurm. Morgens sagt der Mitbewohner laut JAJAJAJA ins Telefon, weil er etwas lustig findet, aber es klingt mehr wie IAIAIAIA. Ich überlege, ob ich das schön finde, und dann macht es den ganzen Tag in meinem Kopf IAIAIAIA.

Im Januar gibt es in der Mensa fast täglich Milchreis. Ich denke manchmal tagelang an Milchreis, ich habe einen Milchreisohrwurm, der Milchreis schmeckt nie so gut, wie wenn ich an ihn denke. Nach dem Essen bin ich nicht mehr wütend, sondern traurig in der Bib, ein ungutes, unsicheres Gefühl sitzt mir in der Magengrube, das Gefühl habe ich fast immer, es fühlt sich an, als hätte ich Scheiße gebaut, wüsste es aber noch nicht. Dann fällt mir der Milchreis ein. Wahrscheinlich ist der Milchreis das Gefühl.

Manchmal habe ich einen Menschenohrwurm. Heute einen Sarahohrwurm. Wie sie den Knopf an der U-Bahntür drückt und die Tür nicht aufgeht und sie nochmal drückt und dann ein Mann drückt und die Tür geht auf, zufällig, nicht weil sie nicht stark ist, und sie verdreht die Augen und nimmt einen Schluck vom Tee in ihrem To-Go-Becher und ist schlecht gelaunt. Immer wieder verdreht Sarah die Augen vor meinen Augen.

Manchmal auch einen Ohrwurm von Menschen, die lange nicht mehr in meinem Leben sind, einen Ohrwurm von einer ehemaligen Freundin, wir haben nicht zusammen gepasst, manchmal denke ich trotzdem, ich sähe sie irgendwo und mir klopft plötzlich das Herz und ich denke den ganzen Tag an sie, überlege, was nochmal ihr Lieblingsessen war, ihr Lieblingsort im Nordkiez von Friedrichshain.

Mein letzter Ohrwurm ist ein Stadtohrwurm: bevor ich auf dem orangenen Tisch einschlafe, laufe ich die Straßen von Manhattan entlang, spüre die Hitze der Stadt, wie mir der Schweiß den Rücken herunterläuft und ich betrunken in ein Sandwich beiße, wie man es in Deutschland, in Europa, nirgendwo finden würde, Pulled Pork mit saurem Gemüse, nicht koscher, nicht besonders frisch, danach ein Limetteneis aus dem Walgreens. Nirgendwo so glücklich allein sein zu können wie dort, denke ich, was für ein Geschenk, dort so glücklich allein sein zu können, es wird immer das geben, mitten im Berliner Winter, der einsam ist grau, darf ich glücklich und allein die Straßen von New York langlaufen, ein weißes Sommerkleid tragen und grünen Farbstoff darauf tropfen. Eiskaltes Wasser kaufen im Deli an der Ecke und extra langsam nach Hause laufen, weil es im Liegen heißer ist und man eh niemanden kennt, es wäre also nicht peinlich, sich dabei erwischen zu lassen, Leute zu beobachten, und das macht hier eh jeder. Am nächsten Tag höre ich in den Straßen Berlins nicht auf, durch die Straßen von New York zu laufen, es ist eiskalt und grau und ich bin müde und immer noch wütend, aber mein Stadtohrwurm rettet mich, ich stelle mir den Sonnenuntergang zwischen Häuserschluchten vor und den Geruch des Theaters, wenn ich die Tür aufstoße. Den Geruch vom West Village, Sojasoße, Koriander, Klimaanlagen. Den Geruch der High Line, wenn die Touristen weg sind. Blumen und Abgas. Den Geruch der vierunddreißigsten Straße. Fleisch und Plastikkoffer und billige Turnschuhe und Chemie und Falafel und Garage. Jetzt habe ich einen Nasenwurm von New York, einen Fußwurm, während meine Füße mich durch das Gitternetz der Straßen Manhattans tragen. In der Bibliothek ist es plötzlich nicht ganz so schlimm. Während ich meine Hausarbeit schreibe, laufe ich durch eine bessere Stadt.