30.08.2019

Was sich zu lange anschaut, wird Maschine (IV)

August 2019

 

Er braucht drei Wochen, um mich einzuholen, das verschafft mir trotz allem etwas Genugtuung. Als ich um fünf Uhr morgens neben dem Bahntower auf dem Boden aufkomme, schmerzt alles bis zu den Knochen. Die Müdigkeit hat sich inzwischen als Schleimschicht in meinen Magen gelegt, aber zum Essen ist sowieso keine Zeit. Nach unserem Erlebnis am Bahnhof und meiner überstürzten Flucht hat es nicht lange gedauert, bis ich gemerkt habe, dass ich die Stadt nur auf konventionellen Wegen verlassen kann. Und die werden zweifellos überwacht. Ewig kann das so nicht weitergehen, das ist klar, aber Zeit zum Nachdenken oder Planen hat es bisher auch nicht gegeben.

Ich sehe mich nach einem Café um, das schon aufhaben könnte, biege in eine Seitenstraße ein. Vor dem einzigen offenen Coffeeshop steht er. Ich halte an, schaue mich um, niemand sonst ist da. Er hat die Hände in den Jackentaschen, als ob ihm kalt ist. Er hat mich gesehen. Drei Sekunden später, viel zu schnell, ist er bei mir.

Einen Moment lang spricht niemand. Dann tritt er nah heran, vorsichtig, langsam. Er behält meine Arme im Blick, als ob er einen Angriff erwartet. Wenn ich es schaffe, ihn wegschubsen, dann kann er sich nicht an mich dranhängen. Die Frage ist, wie lange er dann brauchen wird, um mich wiederzufinden.

Er räuspert sich. Hör zu, sagt er. Seine Stimme ist ein Flüstern, obwohl wir allein sind, kaum wahrnehmbar. Du hast dich völlig verausgabt, wenn du wegläufst, kommst du nicht weit. Ich habe einen Vorschlag. Ich spanne die Muskeln an und versuche meinen Blick fokussiert zu halten. Er hat Recht, ich kann kaum aufrecht stehen. Hör dir einmal an, was ich zu sagen habe, fährt er fort. Wenn es dich nicht überzeugt, kannst du sofort gehen, und ich komme dir nicht hinterher. Aber es gibt ein paar Dinge, die ich dir erzählen muss.


Fünf Minuten später sitzen wir im Café und haben Tassen vor uns auf dem Tisch. Willst du anfangen, sagt er. Mit den Fragen, die du hast. Er kann seine Tasse kaum in Ruhe lassen, dreht dauernd daran herum. Klopft mit den Fingern auf die Tischplatte. Die letzten Wochen über habe ich mir ein paarmal vorgestellt, wie dieses Gespräch ablaufen wird.


Du hast ihr zugenickt, sage ich schließlich, halb zu mir selbst. Das bringt ihn aus dem Konzept. Wem? Der Frau im Zug, vor drei Wochen. Eine von ihnen. Er will offensichtlich etwas antworten, lässt es dann aber doch. Ich habe nicht verstanden, was das soll, sage ich. Dass du mir Angst einjagen willst vor Leuten, die das Gleiche tun wie du. Oder ich. Er will unterbrechen, ich rede weiter. Und dann ist mir klar geworden, dass das überhaupt keine Rolle spielt. Du bist irgendwer von der Uni und du hast mich in etwas reingezogen, das ich nicht überblicken kann. Also interessiert es mich nicht, wer die Frau war. Oder wer du bist, und warum hier alle vor allen auf der Flucht sind. Ich bin raus.

Er wartet noch einen Moment, den Blick starr auf seine Tasse gerichtet. Eine Frage habe ich, sage ich. Ich kann nicht aus der Stadt springen, da gibt es eine Sperre. Warum? Die ist nicht persönlich, sagt er fast geistesabwesend. Das haben mal ein paar Leute eingerichtet, und es lässt sich nicht wieder aufheben. Springen kannst du nur innerhalb von Berlin. Und du hältst dich daran, frage ich. Wenn ich gehe, lässt du mich in Ruhe?

Ich ja. Aber andere werden das nicht tun. Und solange du springst, können sie dich finden – es ist wie ein Signal, Wellen oder sowas. Die Funktionsweise habe ich selbst nie verstanden. Jedenfalls orten sie dich dann. Und wenn du nicht für sie bist, dann stoppen sie dich.

Langsam reicht mir das, sage ich. Wer zur Hölle sind sie? Was soll so geheim sein, dass du mir nicht mal einen Namen oder eine Beschreibung geben wolltest? Und dann noch ernsthaft erwarten, dass ich dir bei diesem Agenten-Bullshit vertraue.

Ich kann in seinem Gesicht ablesen, dass er ebenfalls anfängt, wütend zu werden. Gut. Doch statt etwas zu sagen, nimmt er einen Stift aus seiner Tasche. Er zieht die halb durchgeweichte Quittung unter seiner Tasse hervor, dreht sie um und schreibt ein paar Wörter auf. Dann schiebt er mir den Zettel herüber. Hier können wir nicht reden, sagt er. Nicht sicher.

Ich geh nirgendwo mit dir hin, sage ich. Auf dem Papier stehen Koordinaten; in der Art, wie man sie zum Springen aufschreibt. Die Zeiten sind vorbei. Er seufzt kurz. Dann schlag du was vor, sagt er. Er hält mir den Stift hin. Ich nehme ihn und drehe ihn ein paar Mal zwischen den Fingern hin und her. Die Wahrscheinlichkeit, dass das hier eine Falle ist, scheint mir sehr hoch zu sein. Andererseits, von wem überhaupt? Ich habe zu wenig Informationen, um die Situation auch nur annähernd einschätzen zu können. Und woanders bekomme ich die vermutlich im Moment auch nicht her.

Schließlich schreibe ich etwas hin und gebe ihm den Zettel zurück. Er wirft einen Blick darauf. Das sind doch gar keine-…Ich unterbreche ihn. Keine Koordinaten, stimmt. Nimm die U-Bahn. Okay, sagt er. Morgen um fünf bin ich da, fahre ich fort. Und du solltest besser ein paar Erklärungen parat haben. Das ist das letzte Mal, dass ich mich auf sowas einlasse.

Als ich aufstehe und zur Tür gehe, hat es angefangen zu regnen. Draußen ist niemand und ich habe schon mit dem Fokussieren begonnen, als mir die Warnung von vorhin einfällt. Ich ziehe die Kapuze hoch und mache mich auf den Weg zur S-Bahn.