01.05.2019

Was sich zu lange anschaut, wird Maschine (II)

Mai 2019

 

Wir haben uns seit einer Woche nicht gesehen, aber heute ist wieder ein Termin vereinbart. Er meinte, wir bewegen uns so langsam auf die nächste Stufe zu. Auch, wenn es noch etwas dau-ert, bis wir dahinkommen werden. Letztes Mal habe ich aus Versehen eine Lagerhalle eingerissen und mich furchtbar erschrocken, bis er meinte, das sei normal. Die sind extra dafür ge-baut, hat er gesagt. Dass sie nachgeben, wenn du durchwillst. Sonst manifestierst du dich viel-leicht in der Wand, und das ist keine schöne Erfahrung. Ich bin mir unsicher, ob er es wirklich schon einmal ausprobiert hat, aber das alles ist für mich noch zu neu, als dass ich darüber ein Urteil abgeben könnte. In diesem Moment biegt er um die Ecke, er sieht leicht mitgenommen aus. Wie jemand, der gerannt ist, um noch rechtzeitig anzukommen. Oder seit ein paar Tagen nicht geschlafen hat.

Letzteres, sagt er, als ich ihn frage. Ein paar von ihnen waren wieder in der S-Bahn und ich bin nur ziemlich knapp da rausgekommen. Danach musste ich erstmal ne Weile abtauchen, bis sie meine Spur verloren hatten. Ich will nachfragen, lasse es dann aber. Bisher hat er sich immer geweigert, mir zu sagen, was sie eigentlich sind. Nur dass sie gefährlich sind, habe ich mitbekommen. Das erfährst du schon noch, sagt er, als hätte ich das alles laut ausgesprochen. Aber noch nicht jetzt, erst auf der nächsten Stufe oder so. Denkst du dir diese Stufen eigent-lich alleine aus, frage ich. Oder gibt es da ein System? Es gibt noch andere, falls es das ist, was du wissen willst. Er zögert, weiterzusprechen. Aber ein richtiges Ausbildungssystem mit Prüfungen und Erwartungshorizonten und so haben wir nicht. Oder ein pädagogisches Kon-zept. Ich versuche dir eigentlich die ganzen Techniken so beizubringen, wie ich sie damals von jemandem gelernt habe. Es ist eher so ein Mentoring-Konzept, wenn du verstehst, was ich meine.

Das Konzept ist eigentlich mehr oder weniger das gleiche wie bei festen Gebäuden, sagt er und behält den Zug im Auge. Sieht uns da nicht jemand, frage ich. Das ist doch ein normaler Zug. Aber auf dem Weg zum Depot, sagt er. Keine Fahrgäste, und der Zugführer ist einer von uns. Also auch keine Kameras. Und denk dran, nicht springen oder so. Sonst noch was, auf das ich achten muss? Der Fokus ändert sich, sagt er. Konzentrier dich ausschließlich auf den Zug und den Punkt darin, auf dem du landen willst. Die Umgebung solltest du dabei komplett ausblenden, die verwirrt dich nur. Ich nicke. Der Zug kommt näher und näher und wird dabei nicht langsamer. Jetzt ist er am Bahnsteig und ich fokussiere mich und steuere die Koordinaten an und der Zug rattert und zischt und mein Gehirn wirft gedanklich den Anker aus. Mein Körper fliegt hinterher, leicht, wie Stabhochspringer im Fernsehen immer aussehen und ich lande auf den Füßen, im Zugabteil. Fünf Zentimeter entfernt von der Stelle, die ich angesteuert habe, aber nichts von mir steckt in der Wand. Ich keuche wie nach einem Sprint.

Die Lautsprecher knacken und eine Stimme berlinert zu mir herein, dass ich mich gar nicht so schlecht angestellt habe. Dann landet er neben mir im Zug und erläutert, wo ich nächstes Mal noch besser aufpassen muss. Ich höre kaum hin, das Adrenalin zirkuliert noch in mir und ich fühle mich leicht auf den Füßen und im Kopf. Irgendwann merkt er das und schließt mit einer positiven Bewertung ab. Nächste Woche können wir uns an die dritte Stufe machen, sagt er. Aber erstmal gehen wir das hier noch ein paarmal durch. Im nächsten Moment stehen wir wieder am Bahnsteig und der Zug fährt von der anderen Seite ein. Über die Gleise huscht eine Maus. Ich fokussiere mich und werfe den Anker.