11.08.2020

vergilbung

August 2020

zum ersten mal in monaten verlasse ich berlin. es fühlt sich nicht so an, seltsamerweise, berlin ist immer weiter zusammengeschrumpft, bis der verlauf des m41 von uns zum hauptbahnhof in meine handkuppe passt. gewisse stadtteile vergisst man, bis sie einem zufällig begegnen, ich vergesse zum beispiel immer, dass es den wedding gibt. dann fährt der ice bis in die schweiz. dort ist es wärmer und wir schwimmen im rhein, es ist etwas ganz besonderes, denn man lässt sich den rhein hinuntertreiben und hält sich an seinem wasserfesten sack fest, in dem das handtuch und die klamotten sind. am rheinufer fragt man sich, während man einen salat teilt und bier trinkt, wie man von diesem sonnengewärmten asphalt, auf dem man mit nackten pobacken sitzen kann, zurück soll in diese riesige, handkuppengroße stadt, die stinkt und günstig ist, aber auch ungerecht. in basel hatte ich noch nie liebeskummer, denke ich. das kann ja kein zufall sein.
wir fahren nach zürich und schauen auf den kornspeicher, während das wasser durch uns durch glitzert. am ende des tages bin ich so erschöpft, dass ich im auto einschlafe, aber nicht bevor ich in mein handy tippe: mit müden augen in laue sommerluft auf dem beifahrersitz neben dir völlig neben mir aus dem fenster schauen auf grossstadtlicht am ende der dämmerung - ich liebe dich denken aber auch mal nicht sagen. das sagen meine hände ich behalte mich für mich und uns für uns.
what comes after this / momentary bliss sagt beach house aus dem cd-player.
in bern liegt die aare sehr tief unten und man denkt man wäre im grünen, auf dem land. es macht hungrig, so zu schwimmen, im eiskalten gletscherwasser.
im ice zurück holen wir müde einen kaffee, nachdem ich geweint habe, weil ich nicht zurück nach berlin will. plötzlich bekomme ich angst, der zug wackelt vor sich hin und ich denke, was, wenn ich das gleichgewicht verliere? falle ich dann einfach flach auf den boden, oder halte ich mich an irgendwem fest, man sollte sich im moment ja keineswegs an irgendwelchen fremden festhalten, oder? ich schaffe es mit dem ekligen kaffee zurück zu meinem platz.
ein paar tage später ist der winkel, in dem die sonne über der aare gebrochen ist, eine fernere erinnerung. vergilbte sommer, hier fängt der nächste an. im letzten war es israel, das mir jetzt vorkommt, wie ein guter, langer traum, in dem mir unter einer schweren daunendecke sehr warm wurde. danach drei wochen im türkischen ferienhaus. mit reis gefüllte muscheln, ein enges gefühl in der brust, glasklares mittelmeerwasser, der kleine pool auf dem dach, duschen mit dem gartenschlauch. davor war es marokko, die eindrücklichste erinnerung aus den drei wochen die drei tage in sevilla, in denen wir kaum etwas anderes gemacht haben, als kalte tomatensuppe zu essen, aber nicht gazpacho, salmorejo, mit winzigen wachteleiern drauf und olivenöl. der sommer davor ist auch vergilbt, es war heiß in berlin und ich bin kaum verreist, ich habe mich am ufer des kanals drauf eingelassen, mich unglücklich zu verlieben und danach nach südfrankreich ins erasmus zu gehen, auch toulouse schmilz vergilbt zusammen zu ein paar rosafarbenen fassaden und einer universität ohne klobrillen.
schon jetzt kann ich mir die erinnerung an unseren bevorstehenden urlaub in italien gut vorstellen, auch sie ist vergilbt, es gibt ein haus in den weinbergen und freunde, mit denen man die hängematte teilen kann. die erinnerung wird vergilbte, nackte füße mit sich tragen. und das gefühl, etwas verbotenes zu tun, von dem man niemandem erzählen sollte. wenn die fallzahlen weiter steigen, stornieren wir, sagen wir uns, stornieren wir alles und bleiben halt hier. dann wird berlin vergilben, wenn das prinzenbad wieder zu geht, werden wir verzweifelt in die spree springen. wir werden vergilbte vorstellungen von italien haben, und vielleicht werden wir in zwanzig jahren darüber reden, als wären wir da gewesen, in der villa elena, als hätte abends ein wind ins schlafzimmer geweht, als hätten wir citronella-kerzen angezündet und mückenstiche gezählt. auch unsere erzählungen werden vergilben. ich hoffe, diese zeit vergilbt, wie alles andere, verläuft sich im sand, für uns, wird ein gelber frühling, ein gelber sommer, ein gelber herbst.