14.04.2019

Ich trete eine Reise an

April 2019

 

Ich betrete den Hauptbahnhof, und niemand sonst ist da. Einen Moment lang erschrecke ich und überlege – ist er nicht offen heute, haben wir Feiertag? Es ist Samstagvormittag und draußen stopfen sich in den Supermärkten Einkaufswagen zwischen die Regalreihen, bis Kasse vier endlich aufmacht. Kasse vier hat vor zwei Minuten geöffnet, aber die anderen Schlangen haben sich so schnell bis dahin verteilt, dass die Kunden es schon wieder vergessen haben. Die Geschäfte im Bahnhof sind, soweit ich es beurteilen kann, offen. Probeweise steuere ich auf eins davon zu; ich brauche noch Snacks für die Fahrt. Kekse oder Käsestangen, aber das Wort Snacks klingt selbst in meinem Kopf etwas professioneller und ich wechsle schnell den Gedanken. Die automatische Tür zur Apotheke öffnet sich mit einem leichten Surren, das ich nicht kenne. Ich blicke nach oben und sehe eine Überwachungskamera direkt auf mich gerichtet. War das vorher schon so?

Ich schaue mich um, es ist niemand im Laden. Nicht zwischen den Regalen, nicht bei der Kasse; aus dem Hinterraum, den jede Apotheke hat, dringt auch kein Geräusch. Es putzt sich nicht mal jemand die Nase. Mir fällt ein, dass das hier gar nicht das Geschäft ist, in das ich wollte. Beim Rausgehen achte ich darauf, nicht die Regale zu berühren. Draußen schaue ich auf die gläsernen Wände des Bahnhofs und dann auf meine Füße, unter denen zwei Stockwerke tief die Rolltreppen sich emporschlängeln. Durch das Plexiglas wirken sie zögerlich, aber unbeirrbar schieben sie Stufe um Stufe ans Ziel. Nur eine hat angehalten und zwischen den Stufen haben sich weite Lücken aufgetan. An keiner Stelle sind Warnschilder oder Absperrband angebracht. Vielleicht vertraut dieser Bahnhof seinen Besuchern. Auf dem Plexiglas sind meine Schuhe unangenehm leise. Mein Atem ist viel zu laut. Ich traue den Rolltreppen nicht, deshalb nehme ich die normalen, die niedriger sind als sonst. Glaube ich. Man misst sowas ja nicht, aber meine Füße kommen jedes Mal auf falscher Höhe auf. Der Supermarkt ist genauso leer wie die Apotheke, und die Türen öffnen sich ebenfalls ohne Widerstand. Drinnen sind die Regale halb leer, auf dem Boden dazwischen stehen Kartons herum. Außer den Neonröhren scheint nichts, was Strom braucht, in Betrieb zu sein. Ich greife mir eine Packung Kekse und eine Wasserflasche und gehe zur Kasse. Dort blinken die Lesegeräte vor sich hin, und das Kassenfach steht offen. Probeweise halte ich die Kekspackung unter den Scanner. Nichts passiert. Ich krame in meiner Tasche nach Geld und finde einen Schein. Vor-sichtig drücke ich die Halterung hoch, streiche ihn glatt und lege ihn zu dem anderen Geld. Es sind wenig Münzen im Fach; ich nehme mir kein Wechselgeld heraus. Als ich den Supermarkt verlasse, denke ich, der Alarm muss doch jetzt losgehen. Es kommt nichts. Seit ich den Bahnhof betreten habe, war kein einziges Zuggeräusch zu hören, und bei allen anderen Geschäften stehen die Türen sperrangelweit offen. Es ist niemand da, den man fragen könnte. Stattdessen steht ein Reh vor dem Starbucks. Es wirkt leicht verwirrt und sortiert auf dem glatten Boden seine Beine. Mit seinem Spiegelbild in der Ladenfront kommt es nicht zurecht und stößt den Kopf in Richtung des vermeintlich anderen Tiers. Dabei verliert es wiederholt das Gleichgewicht und muss sich neu aufrappeln. Ich habe mal gehört, dass manche Rehkitze, wenn sie das erste Mal aufstehen, in den Spagat fallen und sich überdehnen. Dann bindet man ihnen eine Schnur um die Hinterbeine, damit sie normal aufstehen können, bis es verheilt ist. Hier würde das nicht viel bringen, das Reh braucht ein Geländer. Oder Profil an den Hufen. Ich gehe rüber und biete ihm aus sicherer Entfernung einen Keks an. Es überlegt kurz und reckt dann den Kopf in meine Richtung. Diese Bewegung bringt es aus irgendeinem Grund ins Gleichgewicht. Mampfend schaut es mich an und schlackert mit den Ohren. Ich zucke die Schultern und gehe los. Das Reh trippelt neben mir her, vorsichtig, um nicht wieder auszurutschen. Meine Schuhe, als hätten sie plötzlich das Profil abgeschabt, gleiten ebenfalls immer wieder aus. Ich gehe dazu über, mich am Geländer festzuhalten. Irgendwann haben wir beide alle Geschäfte abgelaufen und sind am Ende des Bahnhofs angekommen. Oder am Anfang. Jedenfalls am Ausgangspunkt. Noch immer sind keine Menschen aufgetaucht, und selbst Tauben flattern nicht wie sonst in knapper Überkopfhöhe ihre Flugmanöver. Ich bin ratlos. Das Reh ist es auch. Es schaut mich an und ich bilde mir ein, dass es Fragen stellt. Keine davon kann ich beantworten. Aus meiner Reisetasche packe ich Klamotten aus und mache uns ein Lager. Es zögert und setzt dann einen Huf auf den Stoff, wie um Wasser zu testen. Kurz darauf liegt es zusammengerollt neben mir und schnarcht, dass der Boden zittert. Ich strecke mich aus und starre an die Decke, durch die ich Regenwolken nachverfolgen kann. Bald prasselt es. Irgendwann schlafe ich ein.