10.09.2020

dazwischen, zerissen

September 2020

es gibt ein paar sachen, die uns innerlich zerreißen, uns alle, es kann der schmerz der anderen sein oder der eigene, ich schaue dich an, und dein schmerz zerreißt mich. mein schmerz kommt daher, dass ich mich nie genug finden werde und suche nach etwas, das mir den stress nimmt, wenn ich doch selber der stress bin, also würde ich mir manchmal mich selber gern wegnehmen, wie wir der katze die plastikstücke wegnehmen, die sie manchmal von der mülltüte reißt.

draußen regnet es. es ist mitte juli. später kommen deine eltern und wir zeigen ihnen die geschlossenen gebäude von berlin-mitte und essen rhabarbereis. wir beginnen zu flüstern. nachts kann ich nicht schlafen und du steckst mir einen kopfhörer ins ohr. die hohe stimme singt. der prozess von halle beginnt und fühlt sich sehr weit entfernt von mir an. nächstes yom kippur, schwöre ich mir, will ich wirklich fasten. wir fahren bald in den urlaub und ich habe keine lust mehr, möchte mit dir zu zweit musik hören und mich in dich hineinkringeln, dir dein laken klauen und mit keinem reden.

jemand verteilt buttersäure im restaurant über unserer wohnung und im hof, es riecht wochenlang nach kotze in der wohnung. wir glauben, ein nazi. ich bringe der pakistanischen besitzerin dunkle schokolade und schäme mich, dass ich mich mal über den lärm beschwert habe. sie sieht wohl die scham. seitdem halten wir smalltalk, wenn wir uns sehen. es tut mir so leid, sage ich. sie erzählt, dass sie die holzdielen rausreißen müssen vorm winter. weißt du, dana, sagt sie, kann man nix machen, es gibt schlimme menschen. vielleicht war ja ein verrückter das. es muss sie zerreißen.

ein paar tage vor den paar tagen, die mich jeden monat plagen, geht ein gewitter im kopf los. die osteopathin sagt, ich bin so nervös, dass sich meine muskeln nicht mehr entspannen lassen, auch wenn sie es versucht, während mein sichtfeld sich verengt. sie hat einen kleinen hund. obwohl ich kleine hunde eigentlich nicht mag, bin ich sehr froh, dass dieser das behandlungszimmer nicht verlässt. sie schreibt alles auf, was ich ihr erzähle. homöopathie lehne ich schrill ab. wenn ich es mir aussuchen kann, steht auf meinem grabstein „sie lehnte schrill ab“. ein paar tage später bilde ich mir ein, ich hätte die osteopathin vor der croissanterie gesehen, aber das fell vom hund war plötzlich braun. meine brüste sind perfekt symmetrisch. der rest meines körpers ist schief. das taillendreieck, sagt die frau, ist schief. dass es ein dreieck ist, macht sinn, ich verliere dort manchmal sachen, meinen schlüssel, meine orientierung.

ich gehe nur selten freitagsabends in die synagoge im moment, es macht mich traurig, dort zu sein. es scheint auch alle anderen traurig zu machen. 
beim tortenladen gegenüber hole ich zwei stücke an einem späten nachmittag. aus der tortenküche kommt eine frage auf hebräisch. ich möchte gerne erkennbar machen, dass die sprache mir vetraut ist, aber ich weiß nicht wie. ich könnte sagen, toda raba, aber das wäre seltsam, ich könnte die unterhaltung ja nicht weiterführen. ein kleiner stern um den hals, dann, vielleicht. der würde aber andere probleme bringen. 
manchmal zerreißt mich das. an manchen tagen vergesse ich, jüdin zu sein. dann überlege ich, ob ich mich dieses jahr an yom kippur sicher fühlen kann, und es fällt mir schnell wieder ein.

zwischen zwei wellen fahren wir weg. die stadt ist brüllend heiß und wir haben schwitzend viel gestritten, im takt von länger werdenden nächten, jedes mal länger, aber nie über nacht. du fährst früher als ich. ich fahre mit meinem bruder zu den großeltern.
mein bruder ist dazwischen. vielleicht schon frischgebacken, mit 19, vielleicht auch noch dazwischen. das darf er entscheiden, weiß auch unsere oma, es gibt mousse au chocolat, viel margarine auf graubrot.

ich befinde mich meistens dazwischen. dazwischen ist eine bessere art, zerrissen zu sagen. ich schlüpfe beinahe mühelos in das vergessen, in das vergessen, jüdisch zu sein, in das vergessen, was ich alles weiß, in das vergessen, wie das blaue licht an kol nidre den schönsten aller gesänge von meinen tränen abzulenken wusste, in das vergessen, wo sich die fleischige, wo die milchige schublade befand. ich schlüpfe in dieses vergessen, um bei verstand zu bleiben, denke ich, oder um mich zu drücken.

weil man zerreißt, schlägt man sich den kopf ein, ist das die regel? kann man zerreißen, ohne den kopf einzuschlagen? ist das die ewige frage: durch welche wand geht der kopf, und wo macht einen die trauer sanft?